Öfters mal die Füße hochlegen

Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten stehen viele Stunden ihres Arbeitstages im wahrsten Sinne des Wortes durch. Ohne Ausgleich durch Bewegung ist das kaum zu schaffen. Expertinnen und Experten der gesetzlichen Unfallversicherung geben Tipps für gesundes Arbeiten in Stehberufen.

Nicht lächeln, nichts sagen, bloß keine Regung zeigen und vor allem: nicht bewegen! Die Soldaten der Queen’s Guard, der Palastwache der britischen Königin, die vor dem Buckingham Palast in London wacht, müssen während ihrer Dienstzeit absolut stillstehen. So eindrucksvoll das auch aussehen mag, so ungesund ist es auch. „Dafür ist der menschliche Körper nicht gebaut. Er lebt von Bewegung“, sagt Dr. Rolf Ellegast, stellvertretender Direktor des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA). Der menschliche Organismus ist für Bewegung konzipiert, für den Wechsel zwischen Sitzen, Stehen und Laufen.

„Langes Stehen ist eine einseitige Belastung, auf die der menschliche Körper nicht eingestellt ist. Es überfordert den Körper durch eine andauernde Anspannung großer Muskelgruppen. Auf Gelenke, Bänder und Sehnen wirken einseitige Druck- und Zugkräfte“, ergänzt Christina Weber, Diplom-Sportwissenschaftlerin und Referentin der Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution (BGHW). Die Folgen des regelmäßigen, täglichen Stehens sind Müdigkeit, Kreislauferkrankungen, Schmerzen in den Beinen, Nacken- und Rückenschmerzen sowie die Bildung von Krampfadern. Auch die Füße leiden unter langem Stehen. „Ihre Muskeln werden zu wenig aktiviert, sodass das Gewicht auf den Bändern und Fußgelenken lastet. Mit der Zeit kann eine Fehlstellung, etwa ein Spreizfuß mit Ballenzeh oder ein Senk- oder Plattfuß entstehen“, erklärt Ilka Graupner von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW).

DIE HÄLFTE ARBEITET IM STEHEN

Die Stehbelastungen der Palastwache der Queen mögen ein extremes Beispiel sein, doch vielen Beschäftigten ergeht es kaum anders. Sie arbeiten in Berufen, in denen sie täglich ihre Frau oder ihren Mann stehen müssen. Zum Beispiel in der Gastronomie, in der Industrie, im Verkauf oder im Friseurhandwerk. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) wird in diesen Berufen 70 Prozent oder mehr des Arbeitstages gestanden. Von den 39,9 Millionen Erwerbstätigen arbeiteten, laut der Erwerbstätigenbefragung 2012 der BAuA, 56,4 Prozent der Männer und 48,6 Prozent der Frauen im Stehen. Von den Männern empfanden 15,7 Prozent das Arbeiten im Stehen als belastend, von den Frauen 14,8 Prozent.

ERGONOMISCHE ARBEITSMITTEL

Die Belastungen durch Stehberufe spiegelen sich auch in den Krankenständen wieder. So belegen Muskel-Skeletterkrankungen seit Jahren Spitzenplätze bei den häufigsten Krankheiten in der Gesamtbevölkerung. Rund 80 Prozent der Deutschen klagen gelegentlich über Rückenschmerzen. Etwa ein Viertel aller Krankmeldungen entfallen auf Erkrankungen des Haltungs- und Bewegungsapparats und 24,3 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage werden laut des Berichts „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2014“ von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes verursacht. Natürlich sind Stehbelastungen nicht die alleinige Ursache, aber sie tragen ihren Teil dazu bei. Die Bandscheiben zum Beispiel sollten eigentlich für eine optimale Beweglichkeit der Wirbelsäule sorgen. „Wenn sie bei langem Stehen als Puffer herhalten und die fehlende Stützfunktion der erschlafften Muskeln ausgleichen müssen, entstehen häufig Verspannungen und daraus Schmerzen“, erklärt Diplom-Medizinpädagogin Graupner eine Ursache für Rückenschmerzen.

FRAUEN STEHEN HÄUFIGER ALS MÄNNER

Häufig sind es Frauen, die den Berufstag weitgehend im Stehen verbringen. Deshalb untersuchte die BAuA 1999 „Frauen in Stehberufen“. Damals klagte mehr als die Hälfte der befragten Verkäuferinnen über gesundheitliche Probleme. Fast jede zweite von ihnen griff vor allem wegen Schmerzen und Kreislaufbeschwerden häufig zu Medikamenten. Erkrankungen des Halteapparats und des Gefäßsystems verursachten doppelt so viele Ausfalltage wie in anderen Berufsgruppen. Zudem lag die Frühgeburtenrate im Vergleich zu sitzend tätigen Frauen um mehr als das Doppelte höher. Bei Frauen kann der Druck auf Bauch- und Beckenboden zudem zu einer Absenkung der inneren Organe führen.

Die gute Nachricht: Prävention hilft. Es gibt zahlreiche technische, organisatorische und persönliche Maßnahmen, die dafür sorgen, dass die Beschäftigten nicht überbeansprucht werden. Die wichtigste Regel dabei: Bewegen, bewegen, bewegen! Am besten während der Arbeit, auf jeden Fall aber danach. „Ein achtstündiger Arbeitstag sollte täglich mindestens 30 Minuten moderate Bewegung enthalten“, rät Ellegast. Ein weiterer Tipp des Ergonomie-Experten: Nicht länger als eine Stunde ununterbrochen stehen und nicht länger als zwei Stunden ununterbrochen sitzen. „Die wichtigste Maßnahme ist deshalb, bewusst zu machen, dass lange andauerndes Stehen belastend für die Gesundheit sein kann.“

WER STEHT MUSS SICH BEWEGEN

„Bei langem Stehen ist es wichtig, dass die Blutzirkulation in den Beinen angeregt wird“, ergänzt BGHW-Expertin Weber. Sonst drohten Krampfadern und schwere Beine. Beschäftigten empfiehlt sie deshalb, immer wieder die Haltung zu ändern oder abwechselnd auf Fußballen und Ferse zu stehen. „Sie sollten jede Gelegenheit nutzen, sich Bewegung zu verschaffen“, sagt sie. „Und in den Pausen sollten sie ruhig einmal die Füße hochlegen, um die Beine zu entlasten.“ Ihr Tipp für die Freizeit: Joggen, Wandern, Fahrradfahren oder Schwimmen. Gymnastik, die die Rücken-, Bein- und Beckenbodenmuskulatur stärkt, sei ebenso zu empfehlen wie kleine Ausgleichsübungen um Rücken und Füße zu entlasten.

Wer den Tag gut durchstehen will, trägt angemessene Schuhe. Diese sollten flache Absätze, eine gute Dämpfung, Innensohlen mit Fußbett und eine bequeme Passform haben. In der Industrie sei das häufig unkritisch, da viele Unternehmen den Beschäftigten Sicherheitsschuhe zur Verfügung stellen müssten, die in der Regel über ein gutes Fußbett verfügten, sagt Dr. Ursula Meißner, Diplom-Ingenieurin und Ergonomieberaterin bei der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN). „Anders im Verkauf. Hier können die Beschäftigten ihr Schuhwerk selbst wählen – und das ist aus Sicht des Arbeitsschutzes nicht immer tauglich.“

Zu enge oder offene Schuhe sowie dünne Sohlen geben zu wenig Halt und Dämpfung, hohe Absätze stören die Statik der Füße und des gesamten Haltungsapparates. Wer so den Tag auf schlechter Basis verbringt, nimmt zum Teil ernste Folgen für seine Gesundheit in Kauf. So berichtet ein Forscherteam der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, dass sich bei Schuhen mit schlechter Dämpfung die Gangmuster der Betroffenen verändern, oft mit negativen Effekten. „Vorgesetzte sollten deshalb ihre Beschäftigten anweisen, gutes und sicheres Schuhwerk zu tragen“, rät Meißner. Weniger konstruktiv seien Kleiderordnungen, die mehr Wert auf die Optik als auf die Eignung der Schuhe legten – davon sind vor allem Frauen betroffen. Einen Tipp gibt die BGN-Expertin mit: „Ein zweites Paar Schuhe ist bei einem langen Arbeitstag ratsam.“ Die Schuhe zwischendurch zu wechseln, sei angenehm für die Füße und entlaste spürbar.

ABHILFE SCHAFFEN!

Solche Tipps sind hilfreich. Vor allem aber sind es organisatorische und technische Maßnahmen, die für Entlastung sorgen können. Denn ein abwechslungsreicher Arbeitsalltag lässt einseitige Belastungen erst gar nicht überhandnehmen. In Berufen, die häufiges Stehen erfordern, müssen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die entsprechenden Belastungen in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen. Das ist die Grundlage für eine möglichst ergonomische – also menschengerechte – Gestaltung der Arbeitsplätze. Im Friseursalon beispielsweise wird zusätzlich zum langen Stehen auch das Arbeiten in ungünstigen Körperhaltungen als belastend empfunden. Dort helfe unter anderem der Einsatz höhenverstellbarer Arbeitshocker, Waschbecken und Kundenstühle, sagt BGW-Expertin Graupner. „Wichtig ist außerdem, dass die Beschäftigten im Umgang damit und im rückengerechten Arbeiten unterwiesen werden.“

Wenn schon stehen, dann mit möglichst viel Freiraum und Möglichkeiten zur Entlastung. „Steharbeitsplätze sollten so gestaltet sein, dass ausreichend freie Bewegungsräume und Arbeitsbereiche vorhanden sind“, empfiehlt Weber. So sollte es möglich sein, Füßen, Beinen und Rücken gelegentlich eine kleine Entspannung zu gönnen, etwa durch griffbereite Bedarfssitze oder Stehhilfen. So verringert sich laut BAuA bei der Benutzung von Stehhilfen die Last des Körpergewichts, die Beine und Füße tragen müssen, um bis zu 60 Prozent. Das schont Kreislauf, Gelenke, Bänder und Sehnen und hält die Wirbelsäule besser in Form. Das gleiche gilt für Fußböden: Auf glattem, rutschigen Beton lässt sich nicht gut stehen. Besser ist ein federnder, schwingender und rutschhemmender Untergrund. Untersuchungen der BAuA liefern dazu überzeugende Argumente: Elastische Bodenbeläge verringern bei Steharbeitsplätzen die Ermüdung, unterstützen Gelenke und Wirbelsäule. Wo diese bei der Planung des Arbeitsplatzes nicht berücksichtigt wurden, bieten elastische Steharbeitsmatten Entlastung.

MISCHARBEIT HILFT

Noch besser ist Mischarbeit: Ein Beschäftigter übt mindestens zwei verschiedene Tätigkeiten aus – in möglichst unterschiedlichen Haltungen. So könnte eine Supermarktangestellte zwischen dem stehenden Verkauf hinter der Käsetheke und dem Kassieren im Sitzen wechseln, führt Weber als Beispiele an. Im Einzelhandel existieren allerdings häufig reine Kassenarbeitsplätze. „Hier könnten die Unternehmen auf kombinierte Sitz- und Stehkassenarbeitsplätze zurückgreifen“, so Weber. Die Beschäftigten können dann selbstständig die Haltung wechseln. Wichtig ist auch hier, dass sie zuvor darin unterwiesen werden.

Allerdings wird Sitzen mancherorts als unpassend angesehen. Wer beispielsweise im Verkaufsraum oder am Empfang sitzt, wirke unhöflich, nicht motiviert oder präsent genug. Vor allem in repräsentativen Bereichen sollen Beschäftigte oftmals stehen. „Hier wäre ein Umdenken wünschenswert“, so Ellegast und berichtet von einem Projekt, bei dem Zerspannungsmechaniker Sitzmöglichkeiten nicht nutzten, obwohl ein Teil ihrer Arbeit so zu erledigen gewesen wäre. Ihr Argument: „Wer sitzt, arbeitet nicht.“ Doch niemand sollte länger stehen müssen, als es seine Aufgabe erfordert. „Wenn die Unternehmen Wert darauf legen, dass die Kundschaft im Stehen empfangen wird, bieten Stehhilfen am Rezeptionstresen Entlastung. Und wenn die Eingangstür mit einer Glocke verbunden ist, können Beschäftigte Kurzpausen in einem Nebenraum einlegen und trotzdem schnell präsent sein, wenn jemand eintritt“, empfiehlt Graupner. Denn das Stehen um des Stehens Willen hat in der modernen Arbeitswelt nichts verloren.

WEITERE INFORMATIONEN

  • Anregungen für Ausgleichsübungen, die Rücken und Füße entlasten finden Sie auf www.rueckenpraevention.de.
  • Weiterführende Informationen zu Belastungen in Stehberufen finden Sie auf der Website der aktuellen Präventionskampagne der Unfallversicherungsträger www.deinruecken.de.
  • Die Broschüre „Stehend K.O ?“ der BAuA mit weitergehenden Informationren und Präventionstipps finden Sie unter www.baua.de.
  • Die Broschüre „Venengesundheit – Volkskrankheit Venenleiden“ kann kosten kostenlos auf www.bad-gmbh.de bestellt werden.

Ein Artikel von
Falk Sinß

11. August 2016

Kategorie

Wissen