Mentale Gesundheit – eine ­Chance für kleine ­Unternehmen

In Zeiten des Fachkräftemangels haben Arbeitgeber Vorteile, die auf gute und gesunde Arbeitsbedingungen Wert legen. Kleine Unternehmen sind dabei gegenüber großen Konzernen keineswegs chancenlos – wenn sie Werkzeuge wie die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen gut und sinnvoll nutzen.

Interview: Holger Toth (Redaktion)

AUF DEN PUNKT

  • Fokus auf die Arbeitsbedingungen (Verhältnisprävention) ist langfristig sinnvoller und effektiver als der Blick auf das individuelle Verhalten der Beschäftigten (Verhaltensprävention)
  • KMU haben durch direkten Kontakt zur Führungsebene, durch flexiblere Strukturen und durch die gegenseitige Unterstützung in kleineren Teams Vorteile
  • Gefährdungsbeurteilung: Durch systematische Analyse ­lassen sich Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits­bedingungen ableiten

Gute Arbeitsbedingungen sind längst mehr als ein Nice-to-have. Unternehmen legen das Augenmerk verstärkt auf die psychische Gesundheit ihrer Beschäftigten. Dafür gibt es gute Gründe: In einer aktuellen Studie von Deloitte (Mai 2024) zur mentalen Gesundheit geben 63 Prozent der Befragten an, mindestens ein Burn-out-Symptom bei sich zu beobachten. Auch die Statistiken der Krankenkassen verzeichnen seit Jahren einen Anstieg der psychischen Erkrankungen. Es ist von der großen Erschöpfung die Rede und viele Mitarbeiter denken darüber nach, ihren Job zu kündigen.

Um diesen Entwicklungen etwas entgegenzustellen, investieren Unternehmen in vielfältige Präventionsangebote: Mental-Health-Themenwochen, Newsletter mit inhaltlichem Fokus auf psychische Gesundheit oder Apps, die dazu einladen, mit einer kurzen Meditation in die Arbeitswoche zu starten. So wertvoll diese Angebote sind, haben diese doch eines gemeinsam: Sie fokussieren vor allem auf einzelne Menschen und deren Gesundheit.

Zudem sind viele solcher Angebote insbesondere für kleine Organisationen zu groß oder schlicht zu teuer. Viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stellen sich die Frage: Wie können wir im Wettbewerb um qualifizierte Mitarbeiter bestehen?

Verhalten verstehen, Ursachen erkunden und Verhältnisse bearbeiten

Bei Fragen rund um Psyche und mentale Gesundheit schwingen häufig auch Sorgen oder Vorbehalte mit – bei den Geschäftsführungen ebenso wie bei Mitarbeitern. Es braucht eine kritische Reflexion darüber, was erreicht werden soll. Denn schnell können Angebote zur Stärkung der mentalen Gesundheit von Beschäftigten als unangemessener Eingriff in das Private erlebt werden. Oder es kommt zu zynischen Reaktionen, wenn Maßnahmen ausschließlich die Verhaltensebene adressieren. Das ist verständlich, denn eine zu hohe Arbeitsbelastung lässt sich nicht wegmeditieren.

Bei der Klärung sind zwei Perspektiven hilfreich: Die Systemtheorie legt die Unterscheidung zwischen Mensch und Mitglied in der Organisation nahe. Das schafft Klarheit und schützt beide Seiten vor Übergriffigkeit. Darüber hinaus ist die Verantwortung des Unternehmens beispielsweise im Arbeitsschutzgesetz klar geregelt (§ 4 ArbSchG): „Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für … die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird“, heißt es dort. Beide Perspektiven legen nahe, die Arbeitsbedingungen und damit die Verhältnisse in den Blick zu nehmen und dort anzusetzen.

Der Fokus auf die Verhältnisprävention ist auch aus wirtschaftlicher Perspektive die bessere Wahl. Im Mental-Health-Report von Deloitte (2020) wird aufgezeigt, dass Maßnahmen, die auf der Ebene der Organisation ansetzen, die größte Wirksamkeit entfalten. Der Return on Investment liegt durchschnittlich bei 5 zu 1. „Verhältnisse prägen maßgeblich das Verhalten“ ist auch eine Prämisse der angewandten Systemtheorie.

Dennoch wird die Bedeutung der Arbeitsbedingungen für beobachtbares Verhalten oft übersehen. Enttäuschungen entstehen auch, wenn Anliegen und Ideen nicht gehört und Belastungen nicht ernst genommen werden. Mitarbeiter kündigen, wenn sie die Belastung nicht mehr aushalten oder wenn Anstrengung und Belohnung dauerhaft nicht in Balance sind.

Arbeitsbedingungen sind ein wichtiger Hebel, um Probleme an der Ursache zu packen. Mit guten Arbeitsbedingungen zeigen Sie auch jenen Beschäftigten Wertschätzung, die bereits in der Organisation sind und sich einbringen. Das ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels wichtig, da in vielen Unternehmen der Fokus einseitig auf der Personalgewinnung liegt.

Auf Belastungen reagieren

In meinen Projekten als Organisationsberaterin berichten Mitarbeiter von diesen und ähnlichen Belastungen:

  • „Ständig werden Prozesse eingeführt, die mich in meiner eigentlichen Arbeit behindern.“
  • „Es dauert viel zu lange, bis hier eine Entscheidung getroffen wird.“
  • „Ich reibe mich für die Arbeit auf und keiner sieht das.“
  • „Eigentlich sind wir kein Team.“

Die Ursachen liegen also meist auf struktureller Ebene. Da sind beispielsweise Prozesse nicht gut geklärt oder sämtliche Entscheidungen müssen über einen Tisch gehen. Individuelle Zielsysteme haben den negativen Effekt, dass alle sich vorrangig für die Erreichung der persönlichen Ziele einsetzen. Oder es fehlt an einer übergeordneten, gemeinsamen Strategie. Klar, dass in einem solchen Setting keine Innovationen entstehen und es an Teamspirit fehlt. Das ist übrigens auch in Bezug auf psychische Gesundheit fatal. Denn erlebte Wertschätzung und soziale Unterstützung sind ein wichtiger Puffer im Umgang mit Stress.

Doch welche Maßnahmen sind passend und in Ihrem Unternehmen wirksam? Zunächst einmal geht es darum, Zugriff auf die benannten Belastungen zu bekommen. Denn häufig werden diese eher hinter vorgehaltener Hand in der Kaffeeküche formuliert. Oder im Austrittsgespräch – und da ist es in den meisten Fällen zu spät, die Kollegin oder den Kollegen zu halten.

Wirksame Hebel im Umgang mit Belastungen:

Zur Stärkung der mentalen Gesundheit in Organisationen können Sie auf drei Ebenen ansetzen:

Voraussetzungen schaffen

  • Passung von Aufgaben und Kompetenzen
  • angemessenes, faires Gehalt
  • individuelle Angebote der Verhaltensprävention

Stressoren sozial abpuffern

  • gegenseitige Unterstützung
  • wertschätzende und verlässliche Führung
  • gemeinsames „Wozu“

Gesunde Organisation gestalten

  • Ressourcen stärken: z. B. Handlungsspielraum und Partizipation ermöglichen, Zusammenarbeit fördern
  • Stressoren reduzieren: z. B. Konflikte bearbeiten, Prozesse überarbeiten

Gefährdungsbeurteilung: Mehr als eine lästige Pflicht

Ein Werkzeug im Umgang mit Belastungen gibt es schon länger: Bereits seit 2013 ist es verpflichtend, bei der Gefährdungsbeurteilung auch die psychische Belastung in den Blick zu nehmen. In diesem Prozess liegt wertvolles Potenzial, gemeinsam gesunde Arbeitsbedingungen zu gestalten und die Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern.

Allerdings ist mit Blick auf die Umsetzungsquote noch Luft nach oben. Manche Untersuchungen gehen davon aus, dass lediglich knapp die Hälfte der Unternehmen die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen durchgeführt haben. Zudem werden vielfach die Belastungen pauschal analysiert, ohne die Mitarbeiter aktiv am Prozess zu beteiligen. Gerade in kleineren Betrieben sind es strukturelle Umsetzungsschwierigkeiten oder Unsicherheiten, wie das Thema angegangen werden kann. Vielen scheint noch nicht klar zu sein, was sie davon haben: dass gute Arbeitsbedingungen auch dazu beitragen, die Kosten von langen Ausfallzeiten und damit einhergehenden Produktivitätseinbußen zu reduzieren und die emotionale Mitarbeiterbindung zu stärken. Hier gilt es, Brücken zu bauen und die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen leichter zugänglich zu machen.

Vorteil kleiner Unternehmen

Auch wenn kleinere Unternehmen das Thema „Psyche“ häufig nicht systematisch angehen, haben doch gerade sie einen großen Vorteil: Die ESENER-Studie (2019) legt nahe, dass es in kleineren Unternehmen nicht ganz so schwierig ist, miteinander über psychosoziale Risiken ins Gespräch zu kommen. Das stimmt mit meinen Beobachtungen aus der Beratung überein. Die Kollegen kennen sich und auch mit der Führungsebene findet ein regelmäßiger Austausch statt. Gerade wenn die Unternehmenskultur durch gegenseitige Unterstützung geprägt und es möglich ist, auch Herausforderungen offen anzusprechen, können leichter gemeinsame Lösungen auf struktureller Ebene entwickelt werden.

Ein Beispiel aus der Praxis: In einer Kanzlei wurden psychische Belastungen schon sehr stark in Meetings behandelt – ohne dass das Thema auf der Agenda stand. In der Beratung ging es vor allem darum, die bereits benannten Handlungsfelder und Lösungsansätze zu konkretisieren. Es ging auf der organisatorischen Ebene etwa um die Reduzierung von Arbeitsunterbrechungen. Darüber hinaus wurden Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Zusammenarbeit entwickelt. Die Dokumentation der Ergebnisse wurde von der Geschäftsführung für die Steuerung der Maßnahmen genutzt und alle Mitarbeiter konnten darauf zugreifen. So war für alle transparent, was bereits erledigt wurde und welche Punkte noch offen sind.

Für alle Unternehmen lohnt es sich, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Wenn sie das Thema der psychischen Belastungen aktiv angehen, stärken sie die emotionale Mitarbeiterbindung und die Leistungsfähigkeit.

Praxistipp

Mit diesen fünf Tipps stärken Sie die mentale Gesundheit der Beschäftigten im Unternehmen nachhaltig:

1. Klarheit schaffen: Worum geht es?
Auch wenn es nach einer akademischen Diskussion klingen mag: Klären Sie die Begriffe und trennen Sie Belastung von Beanspruchung. Psychische Belastung meint die Arbeitsbedingungen, die von außen auf den Menschen zukommen. Über die Arbeitsbedingungen lässt es sich viel leichter sprechen als über die individuellen Auswirkungen (Beanspruchung). Das entlastet auch die Führungskräfte. Denn es geht nicht darum, auf individueller Ebene zu coachen oder gar therapeutisch zu intervenieren.

2. Anknüpfen an das, was da ist – und selbst machen!
Kleinere Unternehmen sind häufig gut geübt darin, gemeinsam Lösungen beispielsweise für arbeitsorganisatorische Probleme zu finden. Das Erleben psychologischer Sicherheit ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Mitarbeiter offen über Herausforderungen sprechen und Ideen einbringen. Unter diesen Voraussetzungen kann es gut gelingen, die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen mit eigenen Ressourcen durchzuführen.

3. Orientierung geben
Entwickeln Sie ein Zielbild und stimmen Sie dieses mit dem Führungsteam und den Beschäftigten ab. Arbeiten Sie klar heraus: Was wollen Sie erreichen? Was ist nötig, um das Ziel zu erreichen? An welchen Kriterien machen Sie eine hinreichende Annäherung an das Ziel fest?

4. Partizipation ermöglichen und Interesse zeigen
Offenheit und ehrliches Interesse sind wesentliche Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Organisation. Ermöglichen Sie einen offenen Diskurs, in den sich alle einbringen können. Berücksichtigen Sie die Expertise der Mitarbeiter bei Entscheidungen über Maßnahmen. Damit stärken Sie die emotionale Mitarbeiterbindung und die Bereitschaft, sich weiter im Sinne der Organisation einzubringen.

5. Nachhaltigkeit sichern und „wirklich, wirklich“ was bewegen
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist Ausgangspunkt für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz. Der Erfolg wird daran bemessen, ob und in welchem Umfang Sie die entwickelten Maßnahmen auch umsetzen. Bleiben Sie darüber im Gespräch, denn manchmal zeigen sich die Effekte von Maßnahmen nicht unmittelbar.

DIE AUTORIN:

Arbeitspsychologin Alexandra Gerstner ist selbstständige Organisationsberaterin mit Fokus auf der psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt. Sie unterstützt mittelständische Unternehmen dabei, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass Menschen gut arbeiten können, emotionale Mitarbeiterbindung gelingt und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten gestärkt wird.
www.alexandragerstner.de

Für kleine Unternehmen hat sie einen Werkzeugkasten mit individueller 1:1-Beratung zur eigenständigen Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen entwickelt. www.werkstatt-gefaehrdungsbeurteilung.de


Quellen und Literatur:

  • Mental Health and Employers (Deloitte 2020/2024): kurzlinks.de/qv8d
  • Overview Report of the Third European Survey of Enterprises on New and Emerging Risks (ESENER 2019): kurzlinks.de/mklm