Mythos Vorbildrolle?

Warum Führungskräfte Verantwortung übernehmen statt abgeben sollten

Ein kritischer Blick auf die Mehrzahl der mittelständischen Unternehmen zeigt, dass viele Führungskräfte ihre Aufgaben im Arbeitsschutz häufig an die Fachkraft für Arbeitssicherheit delegieren möchten. Denn dafür – so ihre Meinung – sei die Sifa ja schließlich da. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass Führungskräfte ihre Verantwortung im Arbeitsschutz wahrnehmen – nicht nur, um Rechtskonformität zu wahren.

Text: Stefan Ganzke

AUF DEN PUNKT

  • Unklare Erwartungshaltungen führen zu Unsicherheiten im Arbeitsschutz
  • Führungskräften fehlt oft die Qualifizierung für den Arbeitsschutz
  • Praxisnahes Arbeitsschutz-On­boarding hilft bei der Umsetzung

Das Management ist dafür verantwortlich, die erforderlichen Rahmenbedingungen für den Arbeitsschutz zu schaffen. Doch vor allem die operativen Führungskräfte wie Teamleiter, Schichtführer oder Meister spielen bei der wirksamen Umsetzung eine wesentliche Rolle. Während das Management für die Mitarbeiter selten täglich sichtbar ist, stehen operative Führungskräfte ständig im Fokus. Ihre Handlungen und Entscheidungen werden aufmerksam beobachtet. Sie gelten als Orientierung für die Belegschaft. Doch gerade auf dieser Führungsebene hat der betriebliche Arbeitsschutz oft einen zu kleinen Stellenwert.

Ein klassisches Beispiel verdeutlicht dies: Laut einer Umfrage der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zur Manipulation von Maschinen in Unternehmen hat sich in den vergangenen zehn Jahren kaum eine Verbesserung gezeigt – weniger als zehn Prozent Rückgang bei den Manipulationen. Zudem gaben mehr als die Hälfte der Befragten an, dass Führungskräfte in ihren Unternehmen Manipulationen an Maschinen dulden oder sogar einfordern. Dieses Beispiel verdeutlicht den Einfluss, den Führungskräfte auf den betrieblichen Arbeitsschutz ausüben.

Es fehlt an Selbstbewusstsein, nicht am Interesse

Doch ist Desinteresse wirklich der Grund, warum viele Führungskräfte den Arbeitsschutz vernachlässigen und die Verantwortung lieber abwälzen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Tatsächlich fehlt es bei der Mehrheit nicht am Interesse für das Thema, sondern vielmehr am eigenen Selbstbewusstsein. Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung sowie bei der eigenständigen Umsetzung von Maßnahmen resultiert in der Regel aus unklaren Erwartungen und unzureichender Befähigung. Auch der hohe Zeitdruck, der auf den Führungskräften lastet, ist ein Faktor – wobei er zum Teil tatsächlich der Realität entspricht und zum Teil auch die Folge eigener unglücklicher Priorisierungen sein kann.

Ein Fehler, der im Rahmen der Beurteilung der Sicherheitskultur eines Unternehmens immer wieder auffällt, ist das Fehlen einer klaren Erwartungshaltung seitens des Managements gegenüber den operativen Führungskräften. Während in Bereichen wie Produktivität und Qualität eigentlich immer klare, messbare Erwartungshaltungen formuliert werden, gilt beim Arbeitsschutz häufig nur das vage Ziel „null Unfälle“. Ähnlich wie bei der Bewertung von Produktivität und Qualität sind jedoch auch im Arbeitsschutz konkrete Erwartungen notwendig.

Im Rahmen der Übertragung von Unternehmerpflichten erhalten die operativen Führungskräfte zwar ihre rechtlichen Aufgaben und Kompetenzen schriftlich mitgeteilt. Diese sind allerdings in den meisten Fällen so grob, dass hier nicht von einer wirklichen Erwartungshaltung gesprochen werden kann. Zumal es sich hierbei in der Regel um juristisch einwandfrei ausformulierte Texte handelt, die jedoch wenig praxisnah und oft auch unverständlich sind.

Konkrete Erwartungshaltung festlegen und formulieren

Das Management sollte auch im Arbeitsschutz deutlich machen, welche Erwartungen an Teamleiter, Schichtführer und Meister gestellt werden – etwa dass Führungskräfte als Vorbilder agieren, sich sicher verhalten sowie für sichere und gesunde Arbeitsplätze sorgen. Es ist sinnvoll, spezifische Erwartungen zu definieren. Das kann zum Beispiel die Anzahl der durchzuführenden Sicherheitskurzgespräche sein oder auch die Begehungen im eigenen Tätigkeitsbereich.

Sobald diese Erwartungen festgelegt und formuliert sind, sollte sich das Management mit den Führungskräften zusammensetzen und gemeinsam prüfen, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um eine Umsetzung in der betrieblichen Praxis zu ermöglichen. Unrealistische Erwartungen führen zu Frustration, Demotivation und damit auch zu hemmenden Glaubenssätzen gegenüber dem Arbeitsschutz. Sie sind daher kontraproduktiv.

Die Qualifizierung ist das Fundament

Die Mehrheit der Führungskräfte erhält bei der Übernahme ihrer Position keine umfassende Einführung in den Arbeitsschutz. Auch vernachlässigt der Arbeitgeber oft Auffrischungen auf diesem Gebiet. In den meisten Unternehmen erhalten die neuen Führungskräfte zwar eine Schulung zur rechtlichen Verantwortung und Haftung im Arbeitsschutz – allerdings werden sie zu selten qualifiziert, um dieser Verantwortung in der Praxis auch gerecht zu werden. Die Teamleiter, Schichtführer und Meister delegieren ihre Aufgaben in den meisten Fällen deshalb nicht wegen Desinteresse, sondern weil sie keinen Fehler bei Entscheidungen und der Umsetzung von Maßnahmen machen wollen – was unter diesen Umständen durchaus nachvollziehbar ist.

Das Fundament für Führungskräfte, die als Vorbilder im Arbeitsschutz – als Safety-Leader – wahrgenommen werden wollen, ist eine umfassende Qualifizierung. Hierbei ist explizit nicht die Teilnahme an einem ein- bis fünftägigen Seminar gemeint. Denn wissenschaftliche Studien zum Lernen und Verinnerlichen von Informationen belegen, dass diese Vorgehensweise nur bedingt geeignet ist. Die Qualifizierung sollte ein richtiges „Arbeitsschutz-On­boarding“ sein, also über einen längeren Zeitraum erfolgen und die Teamleiter, Schichtführer und Meister bei der Umsetzung in der betrieblichen Praxis begleiten.

Arbeit am Safety-Mindset wichtig

Die Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit Führungskräften in mittelständischen Unternehmen zeigt, dass zu Beginn einer solchen Befähigung zunächst an der Einstellung zum Arbeitsschutz, dem sogenannten Safety-Mindset, gearbeitet werden sollte. Es braucht zuerst ein klares Verständnis darüber, welchen Einfluss das eigene Handeln und Tun auf Mitarbeiter und den Arbeitsschutz im Unternehmen hat.

Im weiteren Verlauf sollte auf die wesentlichen Aufgaben, wie beispielsweise die Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen und die Durchführung von Unterweisungen, eingegangen werden. Im Sinne einer fortschrittlichen Sicherheitskultur sollte ein solches Onboarding auch das Wissen über Maßnahmen wie verhaltensorientierte Begehungen oder die Möglichkeiten der Beteiligung von Mitarbeitern sowie die Umsetzung in der Praxis vermitteln.

Zusammenarbeit und Beteiligung fördern

Mit zielführenden und realistischen Erwartungen sowie einer angemessenen Befähigung wird den Führungskräften schnell deutlich, dass es vorteilhaft ist, Mitarbeiter aktiv in den Arbeitsschutz einzubinden. Die Sicherheitsbeauftragten eignen sich dafür aufgrund ihrer Befähigung und Motivation für den Arbeitsschutz besonders. Es sind hierüber hinaus allerdings auch Mitarbeiter ohne Qualifikationen dieser Art einzubinden.

Die Beteiligung kann beispielsweise bei der Beschaffung von Arbeitsmitteln oder persönlicher Schutzausrüstung (PSA) erfolgen. Darüber hinaus lohnt sich durchaus auch die Einbindung bei der Gestaltung von bestimmten Prozessen, weil die Beschäftigten Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet sind und oft einen anderen Blick als Führungskräfte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit haben. Für die prozessuale Beteiligung empfiehlt sich die Installation einer Arbeitsschutzgremien-Struktur im Unternehmen.

FAZIT

Der Mehrheit der Führungskräfte in Unternehmen möchte, dass die Mitarbeiter jeden Tag so gesund nach Hause gehen, wie sie zur Arbeit erschienen sind. Das Delegieren von möglichst vielen Aufgaben an die Fachkraft für Arbeitssicherheit ist in den meisten Fällen die Folge einer nicht kommunizierten Erwartungshaltung sowie einer unzureichenden Befähigung der Teamleiter, Schichtführer und Meister. Wenn neben einer klar kommunizierten Erwartungshaltung ein angemessenes Onboarding oder Refresher-Kurse stattfinden, werden die meisten Führungskräfte als Vorbilder im Arbeitsschutz handeln. Dies bedeutet, unsicheres Verhalten von anderen Beschäftigten nicht zu dulden, sondern anzusprechen. Gemeinsam Lösungen zu entwickeln und ein sicheres Verhalten positiv hervorzuheben sind wichtige Schritte hin zu einer nachhaltig sicheren Arbeitsumgebung.

DER AUTOR:

Stefan Ganzke ist zusammen mit Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der WandelWerker Consulting GmbH. Gemeinsam mit ihrem Team unterstützen die beiden mittelständische Unternehmen und Konzerne dabei, die Arbeitsunfälle kontinuierlich und nachhaltig zu senken sowie eine gelebte Arbeitsschutzorganisation zu entwickeln. www.wandelwerker.com