Das Gesamtpaket zählt

Der Fachkräftemangel nimmt vor allem für den Mittelstand immer bedrohlichere Ausmaße an. Nur wer das Problem aktiv angeht, hat eine Chance, langfristig zu bestehen.

Viele Jahre lang galt die Arbeitslosigkeit als eines der größten Probleme der deutschen Wirtschaft. Nicht jeder, der arbeiten wollte, fand auch einen Job. Spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 hat sich das gewandelt: Deutschen Unternehmen fällt es zunehmend schwerer, geeignetes Personal zu finden und offene Arbeitsstellen zu besetzen. Standen 2009 laut der Fachkräfteengpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit 100 gemeldeten Arbeitsstellen noch 1.083 arbeitslose Menschen gegenüber, waren es 2018 nur noch 247 arbeitssuchende Personen. Gleichzeitig hat sich die Vakanzzeit, also der Zeitraum, den ein Unternehmen braucht, um eine offene Stelle zu besetzen, im selben Zeitraum nahezu verdoppelt: Brauchte ein Unternehmen 2009 nur 61 Tage, um einen geeigneten Mitarbeiter zu finden, waren es 2018 durchschnittlich 113 Tage. Bricht man diese branchenübergreifenden Zahlen auf einzelne Branchen und Regionen herunter, verschlimmert sich das Bild.

KOSTEN VON RUND 65 MILLIARDEN EURO

Portrait Jonas Sterzenbach, Referent Wirtschaft und Politik beim Deutschen Mittelstands-Bund (DMB)
Jonas Sterzenbach ist Referent Wirtschaft und Politik beim Deutschen Mittelstands-Bund (DMB). Foto: DMB

„Sehr stark betroffen sind auf jeden Fall die technischen Berufe, das Handwerk und die Baubranche, ebenso wie der Bereich IT“, sagt Jonas Sterzenbach, Referent Wirtschaft und Politik beim Deutschen Mittelstands-Bund (DMB). „Da gerade das Handwerk sehr stark durch den Mittelstand geprägt ist, macht sich das vor allem bei mittelständischen Unternehmen bemerkbar.“

Schon heute arbeiten viele der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) an der Auslastungsgrenze und können wegen fehlender Fachkräfte keine neuen Aufträge annehmen. Nach einer Schätzung des Beratungsunternehmens PwC kostet das den Mittelstand jährlich rund 65 Milliarden Euro, was in etwa 1,3 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung entspricht.

Die Gründe für den Fachkräftemangel sind vielfältig. Ein Grund war die gute Konjunktur der vergangenen zehn Jahre, die die Nachfrage nach Arbeitskräften in die Höhe getrieben hat. Ein weiterer Grund ist die zunehmende Akademisierung der Schulabgänger. „Rein zahlenmäßig ist der größte Mangel klar bei Fachkräften mit Berufsausbildung zu finden“, so Sterzenbach. Zwischen 2005 und 2014 habe sich die Studienanfängerquote von 36 Prozent auf 54,7 Prozent erhöht. 2019 seien über 53.000 Ausbildungsstellen offen geblieben.

BIS ETWA 2030 STÜTZEN DIE BABYBOOMER-JAHRGÄNGE DIE ERWERBSBEVÖLKERUNG.

Der größte Treiber für den Fachkräftemangel ist jedoch der demografische Wandel. Aufgrund der niedrigen Geburtenrate nimmt die Zahl der Gesamtbevölkerung ab. Gleichzeitig wird die Bevölkerung älter. Zurzeit gehören 20 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter zur Gruppe der 20- bis unter 30-Jährigen, 49 Prozent zur Altersgruppe von 30 bis unter 50 Jahren und 31 Prozent zur Gruppe der 50- bis unter 65-Jährigen. Bis etwa 2030 stützen die Babyboomer-Jahrgänge die Größe der Erwerbsbevölkerung, nach ihrem Renteneintritt aber wird diese schrumpfen:

Der Fachkräftemangel wird weiter zunehmen, in manchen Regionen mit zum Teil dramatischen Auswirkungen. In den neuen Bundesländern sind rund 40 Prozent der Beschäftigten 50 Jahre oder älter. Diese Lücke wird sich nicht schließen lassen.

DER MITTELSTAND IST GEFRAGT

Von dieser Entwicklung sind vor allem die KMU betroffen, weniger die Großunternehmen. „Großunternehmen haben meistens einen Vorteil bei der Fachkräftesuche. Sie sind bekannter und können oft auch mehr Gehalt bieten als KMU“, erklärt Sterzenbach.

Was kann der Mittelstand also unternehmen, um bei der Fachkräftesuche nicht leer auszugehen und um dem demografischen Wandel zu trotzen?

Marc Lenze, Inhaber des Instituts für gesundheitliche Prävention (IFGP), empfiehlt ein systematisches Vorgehen: „Ein Unternehmen ist nach unserer Definition demografiefest, wenn es über eine Personalstruktur verfügt, mit der es langfristig möglich ist, die erforderlichen Aufgaben zu bewältigen.“ Das heißt, KMU sollten ihre Altersstruktur analysieren, damit sie ihren Status quo kennen: Wie alt sind die Beschäftigten in den einzelnen Abteilungen? Wer geht wann in Rente? Wie sind die einzelnen Abteilungen zusammengesetzt?

Besteht zum Beispiel eine Abteilung vornehmlich aus Arbeitskräften, die kurz vor der Rente stehen, oder aus jungen Frauen, die alle noch in den Mutterschutz gehen könnten, kann das zum Problem werden, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird. „Unternehmen müssen sich zunächst einmal einen Überblick verschaffen und dann die Anforderungsprofile festlegen, nach denen gesucht werden soll“, so Lenze.

Portrait Marc Lenze, Inhaber des Instituts für gesundheitliche Prävention (IFGP)
Marc Lenze ist Inhaber des Instituts für gesundheitliche Prävention (IFGP). Foto: IFGP

Doch selbst dann können KMU immer noch nicht mehr Gehalt zahlen als Großunternehmen. Jonas Sterzenbach empfiehlt deshalb, die sogenannten weichen Faktoren wie flexible und familienfreundliche Arbeitsgestaltung, Weiterbildungsangebote, flache Hierarchien und ein familiäres Betriebsklima in den Vordergrund zu stellen. Und ganz wichtig: „KMU müssen ganz aktiv nach Fachkräften suchen. Die Stellenanzeige in der Lokalzeitung allein reicht nicht mehr.“

ANGEFANGEN HAT MAN MIT TANKGUTSCHEINEN FÜR DIE MITARBEITER.

Portrait Ralf Donell, Geschäftsführer der S&D Blechtechnologie
Ralf Donell ist Geschäftsführer der S&D Blechtechnologie. Foto: S&D Blechtechnologie GmbH

Ralf Donell kann das bestätigen. Er ist Geschäftsführer der S&D Blechtechnologie GmbH, einem Lohnfertiger aus Zemmer, einer Gemeinde nahe der Grenze zu Luxemburg. Sein Unternehmen hat knapp 100 Mitarbeiter und ist das, was man einen klassischen Mittelständler nennen würde. Mit dem Wettbewerb um die besten Fachkräfte kennt er sich aufgrund der Nähe zu Luxemburg im doppelten Sinne aus. Aufgrund der niedrigeren Einkommenssteuern bekommt ein Facharbeiter in Luxemburg mehr Netto vom Bruttolohn. „Wir mussten von Anfang an überlegen, wie wir es schaffen, für potenzielle Mitarbeiter trotzdem attraktiv zu sein, obwohl es auf der anderen Seite der Grenze mehr zu verdienen gibt. Also haben wir überlegt, welche Instrumente es gibt, um den Leuten einfach was Gutes zu tun.“

Angefangen habe man mit Tankgutscheinen für die Mitarbeiter, die später von einer Prepaid-Firmenkreditkarte abgelöst wurden, auf die der Wert des Tankgutscheins gebucht wurde. Zusätzlich gibt es seit einigen Jahren eine freiwillige Erfolgsprämie, wenn das Unternehmen wirtschaftlich ein gutes Jahr hatte, und es gibt auch noch einen Zuschuss für das private Internet der Mitarbeiter. Darüber hinaus erhalten alle Mitarbeiter noch einen Fahrtkostenzuschuss, der sich anhand der Entfernung zur Arbeitsstätte errechnet.

Eine weitere Maßnahme ist das Mitarbeiter-werben-Mitarbeiter-Programm. „Wir haben uns gedacht, ein Mitarbeiter wirbt einen anderen Mitarbeiter ja nur, wenn er ihn auch als geeignet ansieht.“ Und das kann sich für den werbenden Mitarbeiter lohnen. Kommt ein Arbeitsvertrag zustande, gibt es 250 Euro. Ist die Probezeit überstanden, erhält der werbende Mitarbeiter weitere 500 Euro und nach einem Jahr Betriebszugehörigkeit gibt es noch einmal 250 Euro.

FRÜHSTÜCK FÜR ALLE

Neben den monetären Anreizen versucht Donell in seinem Unternehmen S&D Blechtechnologie, auch mit den von Sterzenbach aufgeführten weichen Faktoren zu punkten. „Wir versuchen, eine familiäre Atmosphäre zu schaffen. Unsere Kollegen sollen ja gerne zur Arbeit kommen.“ Dazu zählt zum Beispiel, dass der Chef Frühstück für alle spendiert, wenn aufgrund der Auftragslage Samstagsarbeit ansteht. „Alle Kollegen, die an diesem Tag arbeiten müssen, sitzen vorher zusammen und frühstücken gemeinsam.“ Ein weiteres Angebot, um die sozialen Kontakte innerhalb des Betriebs und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu steigern, sind Firmenfeste. Alle zwei Jahre findet ein Sommerfest am Firmensitz für die ganze Familie statt, in den anderen Jahren gibt es Betriebsausflüge. „Wir versuchen, auch immer die Familie ein bisschen einzubeziehen, weil wir glauben, dass es auch für die Mitarbeiter nett ist, wenn der Partner oder die Partnerin weiß, mit wem sie ihre Zeit verbringen“, sagt Donell.

Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit schätzt Donell auf fünf Jahre. „Aber wir haben auch Mitarbeiter, die sind seit mehr als zehn Jahren hier.“ Trotz aller Anstrengungen und Maßnahmen, um sich von der Konkurrenz auf dem Arbeitgebermarkt abzuheben, bestätigt der Geschäftsführer die Erkenntnisse der Bundesagentur für Arbeit. „Wir müssen uns heute ungleich mehr anstrengen, um erfolgreich zu suchen.“

S&D Blechtechnologie unterstützt einen regionalen Fußballverein als Trikotsponsor, macht Bandenwerbung oder bewirbt in Stellenanzeigen den firmeneigenen Fitnessraum, um auf sich aufmerksam zu machen. „Diese Anstrengungen sind viel größer geworden, als das früher nötig war, um überhaupt Bewerbungen zu bekommen.“ Donell schätzt, dass die Umwandlungsrate – also wie viele Bewerbungen müssen eingehen, um eine Arbeitsstelle mit einem geeigneten Bewerber zu besetzen – im besten Fall gleich geblieben ist.

GEZIELTE MAßNAHMEN SIND ZIELFÜHRENDER ALS DAS GIEßKANNENPRINZIP.

Doch trotz der schwieriger gewordenen Fachkräftesuche dürfen Betriebe die vorhandenen Mitarbeiter nicht vergessen. „Es ist ja nicht nur, dass wir Fachkräfte gewinnen wollen. Wir müssen ja auch noch die halten, die da sind“, sagt Donell aus gutem Grund.

„Kollegen, die schon lange im Unternehmen sind, verfügen über viel implizites Wissen. Und dieses Wissen sollten Betriebe möglichst nachhaltig im Betrieb halten“, ergänzt Marc Lenze. Dazu gehöre natürlich auch, den Wissenstransfer zu den jüngeren Beschäftigten zu organisieren. Lenze empfiehlt, sofern möglich, altersgemischte Teams zu bilden. „Die Jungen können von den älteren Kollegen lernen und die Älteren umgekehrt von den Jüngeren.“ Eine Win-win-Situation für den Betrieb.

Grafik: Tabellen zur Erwerbsbevölkerung, zu Berufsbereichen mit besonderem Fachkräftemangel und zu den Auswirkungen im Mittelstand
Grafik: Liebchen+Liebchen GmbH (Quellen: Statistisches Bundesamt; Berechnungen: BiB; © BiB 2019/demografie-portal.de / Deutscher Mittelstands-Bund (DMB) e. V. mit Daten von „EY – Mittelstandsbarometer Januar 2017“ / Deutscher Mittelstands-Bund (DMB) e. V. mit Daten der „DZ Bank – Mittelstandsumfrage 2017“

TÄTIGKEITSWECHSEL HILFT

Damit Mitarbeiter möglichst lange in einem Betrieb bleiben können, müssen sie aber auch bis zum Renteneintritt gesund bleiben. Dabei hilft ein Betriebliches Gesundheitsmanagement. Dazu gehört für Lenze auch, altersgerechte Arbeitsplätze und die ergonomischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, um entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. In Branchen mit einem hohen Anteil an körperlich fordernder Arbeit können das Tätigkeitswechsel innerhalb einer Schicht sein, damit die körperliche Belastung besser verteilt wird, oder die Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln, die entlastend wirken.

Solche Maßnahmen kosten natürlich Geld, das vor allem bei KMU meist nur sehr begrenzt vorhanden ist. Doch mittel- bis langfristig profitiert der Betrieb davon, denn die Zahl der Krankheitstage nimmt ab und Arbeitsprozesse werden schneller. „Das entscheidende Stichwort ist Priorisierung“, sagt Lenze. Gezielte Maßnahmen seien meist zielführender als das Gießkannenprinzip. Das können auch kleine und kostengünstige Änderungen wie Gummimatten sein. Die reduzieren bei stehenden Tätigkeiten die Belastungen des Muskel-Skelett-Apparates. Wichtig sei die Einbindung der Belegschaft. „Wir erleben immer wieder, dass wir tolle Hilfsmittel haben zur Reduzierung von körperlichen Belastungen, die aber von der Belegschaft nicht akzeptiert werden, weil sie bei der Auswahl nicht dabei waren und die Hilfsmittel als nicht arbeitsplatztauglich empfunden werden“, sagt Lenze.

RESPEKT SPIELT EINE ROLLE

Er rät zudem, das Thema psychische Belastungen anzugehen und auch nach der Arbeitsmotivation der Mitarbeiter zu fragen. Die Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit spiele hier eine große Rolle. Jüngere Beschäftigte wechseln häufiger den Arbeitsplatz. „Das liegt nicht immer am Geld, sondern da spielen häufig auch andere Faktoren wie Respekt oder Firmenkultur eine Rolle“, so Lenze. Er empfiehlt seinen Klienten, die Mitarbeiter zu fragen, wie ein Arbeitstag aussehen muss, damit diese am Ende zufrieden nach Hause gehen. „Aus diesen Antworten bekomme ich viele Stellschrauben genannt, an denen ich etwas ändern kann.“ Und ganz oft seien das Dinge, die mit der psychischen Situation der Mitarbeiter zu tun hätten. „Das ist dann weniger der ergonomische Arbeitsstuhl, sondern die Art des Respekts der Kollegen, die Hilfeleistungen untereinander, die Menge und die Qualität der Aufgaben, die mir zugemutet, aber auch zugetraut werden“, so Lenze.

Bei S&D Blechtechnologie folgt man diesem Ansatz. Eine externe Personalberaterin interviewt regelmäßig die Angestellten und befragt sie nach ihrer Motivation und Zufriedenheit. Die Ergebnisse werden anschließend anonymisiert der Belegschaft präsentiert. „Die Dinge, die da hervorgehoben werden, setzen wir dann tatsächlich auf die Agenda und arbeiten sie ab“, sagt Donell. Doch er weiß, die eine besondere Maßnahme, das Patentrezept, das gegen den Fachkräftemangel hilft, gibt es nicht. „Sie müssen im Grunde genommen ein Gesamtpaket schnüren und dann können Sie vielleicht in der Aufzählung überzeugen und sich attraktiv abheben von vergleichbaren Unternehmen.“

Hören Sie dazu den Podcast zum Thema: Was der Mittelstand gegen den Fachkräftemangel machen kann

Text: Falk Sinß