Der Beinaheunfall als Chance

Viele Großbetriebe setzen mittlerweile auf Meldesysteme für Beinaheunfälle. Aber auch für kleine und mittlere Betriebe kann sich der Einsatz eines solchen Systems lohnen. Dafür müssen jedoch einige Fallstricke umgangen werden.

Ein gutes Meldesystem für Beinaheunfälle kann die Datenbasis zur Analyse von Gefährdungen im Betrieb enorm erweitern. Das zeigt ein Blick auf die sogenannte Arbeitsschutzpyramide, die es bereits seit 1931 in mehrmals weiterent­wickelter Form gibt (siehe Abbildung).

Man sieht deutlich: Die Zahl der Beinahe­unfälle ist exorbitant größer als die der Arbeitsunfälle. Die Unfälle werden untersucht, je schwerer, desto intensiver, Beinaheunfälle in der Regel nicht. Jedem Arbeitsunfall gehen aber ­zahlreiche ähnlich gelagerte Beinahe­unfälle voraus. Wenn man die nun ebenfalls ­systematisch untersucht, liegt es auf der Hand, dass der gesamte betriebliche Arbeitsschutz davon profitiert. Man kann die entsprechenden Gefährdungsfaktoren präventiv angehen, ein tatsächlicher Unfall wird dann bestenfalls gar nicht entstehen, die Arbeit wird sicherer.

Ein Beinaheunfall ist ein Ereignis, das keine oder keine schwerwiegenden Folgen (­Personen- oder Sachschaden, Versorgungsunterbrechung beim Kunden etc.) nach sich zieht, aber diese genauso hätte haben können. Beispielsweise steigt ein Mitarbeiter eine Leiter hinauf, rutscht ab und stürzt zu Boden, ohne dass er sich verletzt. Dieselbe Aktion hätte aber genauso gut zu einem Knochenbruch oder im ungünstigsten Fall zu einer tödlichen Verletzung führen können. Daher sollte dieser Beinaheunfall genauso untersucht werden wie ein tatsächlicher Unfall.

Jede Unfalluntersuchung sollte in drei Schritten vorgenommen werden: Informationssammlung, Beschreibung des Unfall­geschehens, Ursachensuche. Ein guter Leitfaden zur Unfall­untersuchung findet sich auf der Website der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).

Nachdem die Ursachen festgestellt sind, kann der Betrieb ­entsprechende Maßnahmen ergreifen. Das Abrutschen von der Leiter könnte beispielsweise durch eine beschädigte Sprosse verursacht sein, die Maßnahme wird dann die Reparatur oder der Austausch der Leiter sein. Oder der Mitarbeiter trug beim Aufsteigen einen schweren Gegenstand und konnte sich nicht richtig festhalten. Eine entsprechende Betriebsanweisung könnte dann den Umgang mit zu transportierenden Gegenständen bei der Leiterbenutzung regeln.

FÜNF PUNKTE FÜR EIN MELDESYSTEM VON BEINAHEUNFÄLLEN

  1. Keine Sanktionen

Beschäftigte, die Beinahe-Ereignisse melden, müssen keinerlei Sanktionen fürchten. Das muss konsequent durchgehalten ­werden.

  1. Vertraulichkeit

Die Berichtenden müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Identität vertraulich behandelt wird.

  1. Zeitnahe Rückmeldung und Umsetzung

Die Berichte werden zeitnah analysiert und die Empfehlungen zügig umgesetzt. Am besten eine klare Frist für die Antwort an den Berichtenden vorsehen. Analysen und Maßnahmen werden im Betrieb bekannt gemacht.

  1. Ziel: Ereignisse ­zukünftig verhindern

Bei der Analyse von Ereignissen steht immer die Frage im Mittelpunkt, wie zukünftig Unfälle und Beinaheunfälle verhindert werden können. Beispielsweise, ob es Prozesse und Strukturen im Betrieb gibt, die verbessert werden müssen.

  1. Einfache ­Meldemöglichkeit

Es gibt ein einfaches Meldeverfahren, das für jede und jeden ­verständlich und zugänglich ist.

Selbst wenn Unternehmen Meldesysteme für Beinaheunfälle einsetzen, sind sie häufig wenig erfolgreich. Dafür gibt es ­mehrere Gründe. Zunächst einmal ist es vielen Beschäftigten zu zeitaufwendig oder zu kompliziert. Ihre Befürchtungen ­werden nicht ausreichend ausgeräumt, dass aus einem berichteten ­Beinaheunfall nicht doch irgendein Nachteil für den Berichterstatter erfolgt. Zudem fällt es den meisten Beschäftigten schwer, auf sicherheitswidriges Verhalten bei sich selbst oder anderen hinzuweisen. Und nicht zuletzt entsteht in der Belegschaft oft der Eindruck, dass das System überflüssig ist, wenn sich niemand um die Meldungen kümmert, kein Feedback kommt oder Maßnahmen nicht umgesetzt werden.

Diesen Faktoren muss konsequent entgegengearbeitet werden. Das Meldesystem funktioniert nur als Teil einer gesamtbetrieblichen Fehlerkultur, die Fehler nicht ausschließlich als Störung begreift, sondern gleichzeitig als wertvolle Information. Es empfiehlt sich für die Geschäftsführung, eine Betriebsverein­barung mit dem Betriebsrat abzuschließen, in der beispielsweise festgelegt wird, an wen und wie gemeldet wird oder wie der Betrieb mit Regelverstößen als Ursache für Beinaheunfälle umgeht. Darüber hinaus muss die Belegschaft umfassend informiert und motiviert werden. Nur wer verstanden hat, dass sich durch ­konsequentes Melden von Beinaheunfällen die Sicherheit im Betrieb erhöht, wird den Weg mitgehen und seine Hemmungen ablegen, auch sein eigenes Fehlverhalten zu thematisieren.

Text: Franz Roiderer