Stillstand ist der Tod

Unternehmen, die sich nur auf ihr Kerngeschäft konzentrieren und ihr Geschäftsmodell nicht weiterentwickeln, werden langfristig nicht bestehen können. Der Managementansatz der Ambidextrie bietet Firmen einen Ausweg aus dieser misslichen Lage.

Unternehmensführungen stehen grundsätzlich vor einer schwierigen Aufgabe: Einerseits dafür zu sorgen, dass das Tagesgeschäft gut und effizient läuft und sich stetig weiterentwickelt, gleichzeitig muss aber auch der Blick in die Zukunft gerichtet werden, um Innovationen voranzutreiben und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Das beste Beispiel für diese Herausforderung ist zurzeit die Automobilbranche. Angesichts des EU-weiten Verbrennerverbots ab 2035 ist das Ende des bisherigen Geschäftsmodells – die Produktion und der Verkauf von benzin- und dieselbetriebenen Autos – absehbar. Gleichzeitig müssen die Anstrengungen zur Weiterentwicklung emissionsfreier Antriebe intensiviert werden, damit diese die Verluste durch das Verbrennerverbot irgendwann kompensieren können. Das Zauberwort, um diesen Spagat zu meistern, lautet Ambidextrie. Hinter diesem lateinischen Wort für Beidhändigkeit steckt ein neuer Managementansatz, der Unternehmen helfen soll, in einer immer schnelllebigeren und disruptiveren Wirtschaftswelt zu bestehen.

Von interner Kommunikation über Teambuilding bis hin zu unkonventionellem Denken – was müssen Führungskräfte können?

Unsere sechsteilige Management-Serie beschäftigt sich mit diesen Themen. Teil 4: Ambidextrie

„Unternehmen müssen sich heutzutage viel intensiver mit der Frage nach grundlegenden Veränderungen von Geschäftsmodellen auseinandersetzen. Früher wurde ein Fünfjahresplan erstellt, verschiedene Initiativen und Projekte angestoßen und nach ein bis zwei Jahren wurde geschaut, ob es sich in die richtige Richtung entwickelt oder ob man eine Kurskorrektur vornehmen muss“, sagt Friedemann Derndinger, Managing Partner der Unternehmensberatung Leader’s Advisory Point und Co-Autor des Buches „Die ambidextrische Organisation“. Doch in der heutigen Zeit, in der permanent nachhaltige und grundlegende Innovationen umgesetzt werden müssen, würde das nicht mehr reichen, erklärt Derndinger. Unternehmen seien gezwungen, neben ihrem Kerngeschäft Innovationen voranzutreiben. Das könne dann auch in Start-up-ähnlichen und aus der eigentlichen Organisation ausgegliederten Strukturen geschehen. „Neu ist insofern eigentlich nur der Umgang mit Innovationen und diese permanente Polarität zwischen dem bestehenden Kerngeschäft und dem systematischen Suchen nach zukunftsgerichteter Technologie und zukunftsgerichteten Geschäftsmodellen“, betont Derndinger.

„INNOVATIONEN SPIELEN IN ALLEN INDUSTRIEN UND BRANCHEN EINE WICHTIGE ROLLE“

Wer in einem herausfordernden Marktumfeld bestehen will, sollte auf Ambidextrie setzen. „Die Schwierigkeit ist nicht nur, das Kerngeschäft zu pflegen und Innovationen voranzutreiben, sondern auch die Frage, auf welche Innovation ich setzen soll“, erklärt Derndinger. Ambidextrische Unternehmen würden deshalb die Bereiche, die Innovationen erforschen sollen, oftmals aus der eigentlichen Betriebsstruktur auslagern. Auf dieser „Spielwiese“ könnten dann die Innovationen ausprobiert und Überlegungen angestellt werden, welche davon mit dem Kerngeschäft zusammengeführt werden könnten.

Die Branche oder die Art der Geschäftstätigkeit spielen dafür übrigens keine Rolle. „Ich kann mir fast keine Industrien vorstellen, in der die Frage nach Innovationen und nachhaltigen Veränderungen von Geschäftsmodellen keine wichtige Rolle spielt“, ist der Unternehmensberater überzeugt. Selbst Industriezweige mit geringem Innovationsgrad böten ausreichend Raum für Verbesserungen. „Insofern ist der Umgang mit Ambidextrie, also die profitable Weiterentwicklung des Kerngeschäfts parallel zur Erforschung neuer Geschäftsmodelle, für fast jedes Unternehmen eine Notwendigkeit, um langfristig überleben zu können“, betont Derndinger.

Wollen Unternehmen ihre Organisation ambidextrisch verändern, ist vor allem das mittlere Management gefragt. Das Top-Management muss zwar entscheiden, auf welche Innovationen gesetzt werden sollen und welche organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Die meiste Arbeit kommt aber auf die Bereichs- und Abteilungsleiter zu, sagt Derndinger: „Denn die müssen umsetzen, was von oben vorgegeben wird. Sie stehen vor der Herausforderung, innovative Projekte vorantreiben zu müssen, gleichzeitig dürfen sie dabei aber nicht das Tagesgeschäft aus den Augen verlieren.“ Hinzu kommt für die Führungskräfte der mittleren Ebene die individuelle Frage nach der persönlichen Weiterentwicklung. Soll die Karriere im bestehenden Kerngeschäft fortgeführt werden oder doch besser im neuen, aber noch sehr unsicheren Geschäftsfeld?

„ICH MUSS ES AUCH VON MEINEM SELBSTVERSTÄNDNIS ALS FÜHRUNGSKRAFT AUSHALTEN, MIT UNSICHERHEITEN UMGEHEN ZU LERNEN“

Ambidextrische Manager brauchen deshalb bestimmte Fähigkeiten. Eine zentrale ist für Derndinger ein breites Führungsstilportfolio. Ambidextrische Manager finden sich viel häufiger in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Mitarbeitern. Sie müssen dementsprechend in der Lage sein, ihren Führungsstil der jeweiligen Situation anpassen zu können. Gleichzeitig müssen sie damit umgehen können, dass sie nicht mehr alles selbst beherrschen und sofort eine Lösung für ein Problem parat haben können. „Ich muss es auch von meinem Selbstverständnis als Führungskraft aushalten, mit Unsicherheiten umgehen zu lernen.“ Die dritte zentrale Fähigkeit, die ambidextrische Manager mitbringen müssen, ist: Resilienz. „Wenn eine Führungskraft plötzlich zwei unterschiedliche Welten mit unterschiedlichen Mitarbeitern und unterschiedlichen Themen managen soll, ist das eine sehr herausfordernde Situation“, erklärt Derndinger. Nicht nur die Arbeitsdichte wird höher, auch die Komplexität der Aufgaben wird größer. „Diese Doppelbelastung kann die psychische Gesundheit belasten“, sagt Derndinger. Ambidextrische Unternehmen sollten deshalb Vorkehrungen treffen, die die mentale Gesundheit der Führungskräfte stärken und die physischen sowie psychischen Belastungen reduzieren.

„ERST KOMMT DIE INNOVATION, DANN DIE ORGANISATION!“

Ambidextrische Unternehmen setzen auf unterschiedliche Organisationsformen. Von Google ist bekannt, das die Mitarbeiter 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für eigene Ideen, Verbesserungen und Experimente nutzen sollten. Dem Unternehmen zufolge hat dies zu Produkten wie Google Mail, AdSense oder Google Maps geführt. Mit zunehmender Größe der Belegschaft war diese Methode aber nicht mehr effektiv genug. Deshalb wurde durch eine interne Umstrukturierung Google Labs gegründet, das die Innovationsaktivitäten der Beschäftigten zusammenführen soll.

Das Softwareunternehmen Misys sah sich durch kostenlose Open-Source-Software einem immer stärkeren Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Doch statt eines Sparkurses investierte das Unternehmen rund 300 Millionen US-Dollar in den Aufbau einer eigenen Open-Source-Plattform, die sich schnell als Basis für neue Verträge mit Ärzten, Krankenversicherern und Krankenhäusern etablierte und dem Unternehmen darüber hinaus wichtige Erkenntnisse und Ideen für neue Produktinnovationen lieferte. Im Jahr 2017 fusionierte das Unternehmen mit dem Softwarehersteller D+H zu Fianstra, einem der weltweit größten Unternehmen für Finanztechnologie.

Die Frage nach der Organisationsform des Unternehmens hält Derndinger für zweitrangig bei der Umsetzung von Ambidextrie. „Das größte Problem ist weniger die Organisationsform, sondern liegt darin, auf welche disruptive Innovation ich setzen will. Welche Innovation möchte ich ausgetestet wissen? Kann ich die Innovationen allein entwickeln oder sollte ich mich vielleicht mit einem Start-up, einer Universität oder einem anderen Unternehmen zusammenschließen? Darauf eine Antwort zu finden, ist viel entscheidender als die Frage, ob ich ein externes Digilab gründe oder ob sich alle Mitarbeiter einmal im Monat treffen, um an innovativen Projekten zu arbeiten“, so Derndinger. Für den Ambidextrie-Experten ist klar: „Erst kommt die Innovation, dann die Organisation!“

UNKLARE STRUKTUREN SIND NEBEN DER ÜBERFORDERUNG DES MITTELMANAGEMENTS DIE GRÖSSTE FEHLERQUELLE DER AMBIDEXTRIE

Doch auch wenn die Form der Organisation erst nach der Innovation kommt, ist es wichtig, dafür eindeutige Strukturen zu schaffen. Denn neben der Überforderung der mittleren Führungskräfte sind für Derndinger vor allem unklare Strukturen die zweite große Fehlerquelle bei der Umsetzung der Ambidextrie. Sonst besteht die Gefahr, dass verschiedene Strukturen und Organisationseinheiten parallel zueinander laufen, ohne dass ein Austausch stattfindet oder schlimmer noch: dass sie sich in Konkurrenz zueinander sehen und bekämpfen. Bei Mitarbeitern, die aus den bestehenden Strukturen herausgelöst wurden und dann vielleicht für eine gewisse Zeit in Start-up-ähnlichen Digilabs arbeiten sollen, könne schnell die Bindung zum Unternehmen und den Vorgesetzten verloren gehen. „Der einzelne Mitarbeiter wird quasi zu einer Ich-AG ohne direkten Bezug zum Mutterunternehmen“, erklärt Derndinger, „und die Führungskraft bekommt nicht mehr mit, wie es dem Beschäftigten geht.“

Der Ambidextrie-Experte sieht zwei Wege, um das Problem zu lösen. Der Führungskraft wird deutlich gemacht, dass sie auch weiterhin verantwortlich ist für das Wohlempfinden des an ein Innovationslabor ausgeliehenen Mitarbeiters und dessen Bindung zum Unternehmen. Sind vergleichsweise viele Mitarbeiter an ein Innovationslabor ausgeliehen oder außerhalb der eigentlichen Unternehmensorganisation tätig, können spezielle Mitarbeiter damit beauftragt werden, eine Mentorentätigkeit zu übernehmen. In dieser kümmern sie sich um ihre Kollegen, fragen nach deren Wohlempfinden und übernehmen so die eigentliche Betreuungsfunktion der Führungskraft.

„Unternehmen sollten sich bewusst machen, dass sie vor der Herausforderung stehen, den Spagat zwischen der Stärkung des Kerngeschäfts und der innovativen Weiterentwicklung des eigenen Geschäftsmodells schaffen zu müssen. Wer sich dieser Herausforderung nicht stellt, wird es schwer haben, am Markt zu bestehen. Stillstand ist der Tod“, betont Derndinger. Unternehmen sollten sich stattdessen offensiv dieser Aufgabe stellen, ist Derndinger überzeugt. Er verweist auf einen seiner Klienten aus der Automobilbranche, der dies sehr gut mache: „Die bereiten das Mittelmanagement ganz bewusst auf diese Herausforderung vor und schulen ihre Führungskräfte für die Arbeit in einer ambidextrischen Organisation“, sagt Derndinger. „Das ist vorbildlich. Auch für Unternehmen anderer Branchen.“

Hören Sie das Interview mit Friedemann Derndinger als Podcast. Sie finden es unter www.praevention-aktuell.de/podcast

Stillstand ist der Tod: Interview mit Friedemann Derndinger
Foto: Privat

Friedemann Derndinger ist Managing Partner der Unternehmens­beratung Leader’s Advisory Point.

Er ist Co-Autor des Buches „Die ambidextrische Organisation“.

Text: Falk Sinß