Die KI empfiehlt – der Mensch entscheidet

Unfallprävention bei der BG BAU

Die Berufsgenossenschaften haben den gesetzlichen Auftrag, für sichere und gesunde Arbeitsplätze zu sorgen. Allerdings können die Aufsichtspersonen unterjährig nicht alle Mitgliedsunternehmen besuchen, um sie zum Arbeitsschutz zu beraten. Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) lässt sich nun von Künstlicher Intelligenz (KI) helfen, die richtige Auswahl zu treffen.

Text: Ellen Hellmann

AUF DEN PUNKT

  • KI unterstützt Aufsichtspersonen der BG BAU bei Risikoeinschätzung
  • Unternehmensbesuche können gezielter geplant werden
  • KI verbessert Trefferquote bei Unternehmen mit Beratungsbedarf

Im Falle eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterstützen Berufsgenossenschaften ihre Versicherten mit Reha-Maßnahmen oder im Fall einer Erwerbsunfähigkeit mit einer Rente. Damit es gar nicht erst so weit kommt, sind die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung präventiv tätig. Eines der wichtigsten Instrumente ist dabei der persönliche Kontakt von Aufsichtspersonen und Präventionsberatenden zu Unternehmen. Dies erfolgt bei der BG BAU unter anderem in Form von umfassenden Baustellenbesichtigungen sowie Beratungsgesprächen.

Rund 15 Prozent der meldepflichtigen Arbeitsunfälle bei der BG BAU sind schwere oder schwerste Unfälle. Also Unfälle, die schwere Verletzungen nach sich ziehen, die medizinisch behandelt werden müssen und längere Ausfallzeiten oder gar eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben. Allein daran lässt sich schon erkennen, warum Präventionsarbeit so wichtig ist. Ziel ist es, tödliche Arbeitsunfälle zu verhindern, den Anteil schwerer und schwerster Unfälle sowie die Zahl der Berufskrankheiten nachhaltig zu senken.

Hoher Beratungsbedarf macht Auswahl nötig

Die BG BAU hat rund 580.000 Mitgliedsunternehmen. Für die Überwachung und Beratung sind circa 500 Aufsichtspersonen im Einsatz. Diese können im Jahr etwa 25.000 Gespräche mit Unternehmen führen. Das bedeutet: Die Aufsichtspersonen können nicht jedes, sondern nur etwa jedes vierte Unternehmen aufsuchen.

Die Aufsichtspersonen stehen somit vor folgenden Fragen: Wie können wir Unternehmen mit erhöhtem Beratungsbedarf für ein Gespräch identifizieren und priorisieren? Wie gelingt es, die Vorbereitungszeiten für ein Gespräch zu reduzieren?

KI-Projekt im bundesweiten Praxistest

Bei der Lösung der Probleme soll der Einsatz von Künstlicher Intelligenz helfen. Dazu testet die BG BAU derzeit bundesweit eine KI-basierte Anwendung in der Praxis. Gefördert wird das Leuchtturm-Projekt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).

Das Projekt „KI-basierte Unfallprävention“ funktioniert so: Informationen aus verschiedenen Datenquellen – zum Beispiel zu Unfällen, zu Mängeln im Arbeitsschutz und zu Seminarteilnahmen – werden in einer Datensammlung zusammengefasst. In dieser Datenbasis kann die KI-Anwendung Muster erkennen und darauf aufbauend Empfehlungen entwickeln, welcher Betrieb vermutlich erhöhten Beratungsbedarf hat.

Grafik: KI-Modell Datentöpfe
Grafik: Polina Panchenkova Accenture / BG BAU

KI hilft Aufsichtspersonen bei Risikoeinschätzung

Bisher mussten Aufsichtspersonen selbst anhand statistischer Analysen eine regelbasierte Risikoeinschätzung durchführen, um zu entscheiden, welches Unternehmen sie aufsuchen. Jedoch stoßen herkömmliche statistische Methoden schon bei der Definition von Beratungsbedarf an ihre Grenzen.

Die Aufsichtspersonen wissen aufgrund ihrer Erfahrung, welche Merkmale zur Bestimmung des Beratungsbedarfs wichtig sind und welche nicht. Aber sie können diese Merkmale nicht kontinuierlich für alle versicherten Unternehmen erfassen und auswerten. Hier setzt Künstliche Intelligenz an.

Leitlinien für KI-Einsatz

Der BG BAU ist der verantwortungsvolle Umgang mit der KI-Technologie wichtig. Orientierung geben hierbei die selbstverpflichtenden Leitlinien für den KI-Einsatz in der Arbeits- und Sozialverwaltung, die zuvor im vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) koordinierten Netzwerk „Künstliche Intelligenz in der Arbeits- und Sozialverwaltung“ entwickelt wurden und in dem Projekt angewendet und weiterentwickelt werden. Die KI-Leitlinien sehen vor, dass der Einsatz von KI stets menschenzentriert gestaltet wird. So müssen die Ergebnisse von KI-Anwendungen zum Beispiel für die Beschäftigten in der Verwaltung immer transparent und nachvollziehbar sein.

Künstliche Intelligenz kann Daten quantitativ schneller analysieren und Muster zuverlässiger erkennen als ein Mensch. Die KI-Anwendung im Projekt „KI-basierte Unfallprävention“ wurde in Zusammenarbeit von IT-Experten und Datenwissenschaftlern entwickelt. Dabei wurden die Präventionsmitarbeitenden von Anfang an eingebunden, um die fachliche Richtigkeit und Nutzerfreundlichkeit der KI-Lösung sicherzustellen. Sie soll die Aufsichtspersonen nun dabei unterstützen, Unternehmen zu identifizieren und aufzusuchen, die vorrangig beraten werden sollten.

Die Aufsichtspersonen erhalten von dieser KI-Anwendung Empfehlungen, in welchen Betrieben mit einem erhöhten Beratungsbedarf zu rechnen sein könnte. Ziel des KI-Einsatzes ist es ebenfalls, Defizite in der Arbeitsschutzorganisation von Unternehmen zu identifizieren und die Aufsichtspersonen bei der Auswahl der Unternehmen zu unterstützen, um durch die frühzeitige Beratung schweres menschliches Leid zu verhindern.

Endgültige Entscheidung liegt beim Menschen

Anhand eines Ampelsystems erhalten die Aufsichtspersonen für jedes Unternehmen in ihrem Aufsichtsgebiet eine Einschätzung des Beratungsbedarfs. Dabei handelt es sich um Empfehlungen, nicht um Arbeitsanweisungen. Sollten die Aufsichtspersonen das Unfallrisiko in einem Unternehmen anders bewerten, können sie die KI-basierten Empfehlungen auch ablehnen.

Zudem haben die Aufsichtspersonen die Möglichkeit, Feedback zur Qualität der Empfehlungen zu geben, um das KI-System langfristig zu verbessern. Das heißt: Aufsichtsperson und KI-Anwendung arbeiten zusammen. Die letzte Entscheidung, ob sie den KI-Empfehlungen folgen und welche Unternehmen sie aufsuchen, treffen die Aufsichtsperson aufgrund ihrer eigenen Expertise weiterhin selbst.

Zeitersparnis für die eigentliche Präventionsarbeit

Die bislang erhobenen Daten wurden systematisch ausgewertet, um Hinweise zum Unfallgeschehen zu bekommen. Mit der Rechenleistung von KI können große Mengen relevanter Daten – wie zum Beispiel Unfallzahlen in Unternehmen – in Echtzeit analysiert und passgenau aufbereitet werden, um Unternehmen mit erhöhtem Beratungsbedarf schneller und gezielter identifizieren zu können.

Während der ersten Testphase im Herbst 2023 wurde das KI-Modell zunächst von 15 Aufsichtspersonen getestet. Dabei flossen die Einschätzungen der beteiligten Aufsichtspersonen zu auffälligen Mustern ebenso in die Datenbank ein wie die Ergebnisse aus den von ihnen durchgeführten Unternehmensgesprächen.

Erste Erkenntnisse aus dem Projekt

Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Zusammenarbeit zwischen Aufsichtspersonen und KI führte zu den besten Trefferquoten. Die Trefferquote bezieht sich darauf, ob ein Unternehmen, das von der KI-Anwendung als beratungsbedürftig vorgeschlagen wurde, bei einem Vor-Ort-Besuch der Aufsichtsperson tatsächlich einen Beratungsbedarf aufweist.

Im bisherigen Prozess ohne KI stellten die Aufsichtspersonen bei 35 Prozent der durchgeführten Unternehmensgespräche einen hohen Beratungsbedarf fest. In der Testphase wurde in Gesprächen vor Ort bei 58 Prozent von der KI-Anwendung vorgeschlagenen Unternehmen ein hoher Beratungsbedarf festgestellt. Der Einsatz von KI führte somit zu einer signifikanten Steigerung der Trefferquote an ermitteltem Beratungsbedarf: Bei voller Unterstützung durch den KI-Assistenten, also in den Fällen, wo die Aufsichtsperson der KI-Empfehlung folgt, erreichte die Trefferquote sogar 64 Prozent.

Fazit

Mithilfe von Künstlicher Intelligenz können große Mengen an Unternehmensdaten schneller und effizienter analysiert und priorisiert werden. Von der KI-Anwendung erhalten alle Aufsichtspersonen seit Dezember 2023 die aufbereiteten relevanten Daten sowie eine Empfehlung zum Beratungsbedarf. Das Feedback der Aufsichtspersonen zu den KI-Empfehlungen wird derzeit gesammelt und für die Weiterentwicklung des KI-Modells verwendet.

DIE AUTORIN:

Ellen Hellmann hatte ihre Masterarbeit über KI geschrieben und ist als Referentin für Digitalisierung bei der BG BAU tätig. Sie leitet das Projekt „KI-basierte Unfallprävention“.