Arbeitsschutz und Nachhaltigkeit in Zeiten der De-Globalisierung

Die Zeiten der Globalisierung sind für Dr. Peter Neurieder vorbei. In seinem Essay stellt der Geschäftsführer von EGNATON (Europäische Gesellschaft für nachhaltige Labortechnologien) den Zusammenhang zwischen der einsetzenden De-Globalisierung und politischen sowie gesellschaftlichen Prozessen her. Dabei spielen auch der Arbeitsschutz und die Nachhaltigkeit eine Rolle.

Ausgangslage

„Nachhaltigkeit ist die Berücksichtigung und strukturierte Bewertung ökonomischer, ökologischer und sozio-kultureller Aspekte im Rahmen individuellen und kollektiven Handelns sowie wirtschaftlichen Wirkens.“1 Jede Art von Nachhaltigkeitsbeurteilung muss diese drei Aspekte zusammen, simultan und angemessen in eine Bewertung miteinschließen.

Die soziokulturelle Dimension der Nachhaltigkeit umfasst auch den Arbeitsschutz – also Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz – sowie ergonomische und leistungsfördernde Bedingungen am Arbeitsplatz. Die soziokulturelle Dimension steht hier auch für Teile der physiologischen Existenzbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen oder körperliches Wohlbefinden und für einige Sicherheitsbedürfnisse (Wohnen, Arbeit, Einkommen) der Menschen.

In den vergangenen 60 Jahren wurden zunächst Existenzbedürfnisse bei der Arbeit gesichert, später bis dahin vergesellschaftete Umweltkosten internalisiert und nach und nach betriebliche Nachhaltigkeitskonzepte entwickelt, die unter anderem hohe Standards für Arbeits- und Umweltschutz in wirtschaftlich zukunftsfähigen Unternehmen ermöglichten. Voraussetzung dafür war allerdings eine fulminante volkswirtschaftliche Entwicklung in den Industriestaaten. Seit den 1960er-Jahren nahm auch eine ­weltweite Vernetzung in ­Wirtschaft, Politik, Kultur, Umwelt und Kommunikation zwischen Individuen, Gesellschaften, Institutionen und Staaten zu, was heute kurz und prägnant als Globalisierung bezeichnet wird.

Was ist seitdem passiert?

Die Globalisierung bedrohte Klima und Umwelt gleichermaßen und punktete deshalb nicht auf der ökologischen Skala der Nachhaltigkeit. Ein Schelm, wer meinte, in der Globalisierung käme ein hoher Arbeitsschutzstandard wie der deutsche völlig ungeschoren davon.

  • Mit Andeutungen eines möglichen Standortwechsels wirkten vor allem größere Unternehmen sehr erfolgreich auf Ausnahmen hin, die ihnen höhere Investitionen für Brandschutz oder Arbeitsschutz ersparten, solange sie den Anschein erweckten, die Risiken trotzdem zu beherrschen.
  • Der Kostendruck in den Betrieben wuchs – nach Corona-Zeiten sogar mehr als vorher. Unternehmen erzeugten ihrerseits wiederum Druck auch auf die Regelsetzer für den Bereich Arbeitsschutz und hofften auf entlastende Korrekturen, wie sie auch im Rahmen früherer Deregulierungskampagnen wirkungsvoll durchgesetzt worden waren.
  • Schon seit Jahren verloren die Kontrollbesuche der Aufsichtsbehörden an Zahl, Umfang und Qualität.
  • Bereits seit Jahren zeichnete sich in Deutschland auch bei der nach DGUV Vorschrift 2 geforderten arbeitsmedizinischen Betreuung ein Mangel an verfügbaren Arbeitsmedizinern ab. Eine Änderung der Vorschrift oder die notwendige Verbreiterung der betrieblich einsetzbaren Expertise für die neuen Herausforderungen im Arbeitsschutz auf weitere Berufsgruppen erfolgten aber bis heute nicht. Entstehende Defizite im Arbeitsschutz wurden dabei in Kauf genommen.
  • Zunehmend werden durch ISO auch Managementverfahren zertifiziert, die auf eine globale Nivellierung von Standards abzielen. Umso bedenklicher wird, dass bei der Zertifizierung von Arbeitsschutzmanagementsystemen nach ISO 45001 in
    Zukunft zum Beispiel nicht mehr alle ILO-Vorgaben erfüllt werden müssen.

Mittelfristig machte die Strategie global verteilter Wertschöpfungsketten Europa zum Verlierer aus Sicht der sozialen Nachhaltigkeitsdimension. Unter dem Druck wachsender Konkurrenz auf den globalen Märkten gab es auch in Deutschland spürbare Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt:

  • Zunächst führten Deregulierungsinitiativen unter anderem zur Lockerung des Kündigungsschutzes und zu „flexibleren“ Beschäftigungsmodellen.
  • Es entstand ein wachsender Zwang zur Gewinnmaximierung durch Kostenreduzierung.
  • Die Unternehmensbeteiligung an den Sozialkosten wurde auf Kosten der Arbeitnehmer schrittweise zurückgenommen.
  • Millionen atypischer oder prekärer Arbeitsverhältnisse ermöglichten kostensparendes Outsourcing bei verringertem Personalbestand.
  • Zu versteuernde Reallöhne stagnierten im Vergleich zu den steigenden, im Ausland versteuerten Gewinnen deutscher Unternehmen mit multinationalen Standorten.

Götterdämmerung

Aktuell erlebt die moderne (liberale) Globalisierung eine Götterdämmerung, sie hat nach ­Meinung von Kritikern die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt.

Schon früh zeigten sich jedoch auch schädliche Nebenwirkungen der Globalisierung, die neben Gewinnern eben auch Verlierer kennt. Deutschland war auf diese Nebenwirkungen der Globalisierung nicht gut vorbereitet und hat darauf zu spät oder bis heute gar nicht reagiert, obwohl gerade Deutschland wesentliche Impulse für die Globalisierung setzte.

Aktuell erlebt die ­Globalisierung eine Götterdämmerung

Neuere Entwicklungen wecken nun aber die Hoffnung, dass die moderne Globalisierung die kuriose selbstregulierende Fähigkeit hat, sich selbst auszubremsen.

De-Globalisierung

Wachsende gesellschaftliche und soziale Ungleichheit zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern führten zu sozialer Unzufriedenheit, dem Entstehen irrationaler Verschwörungsmythen, dem Aufstieg autoritärer Führer und anwachsenden Migrationsbewegungen. Ein erratischer damaliger US-Präsident, die Corona-Pandemie, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und das weltumspannende Sanktionssystem gegen den Aggressor stellten tiefgreifende weltwirtschaftliche Zäsuren dar. Schließlich wurde das endgültige Scheitern des Globalisierungsprojekts sichtbar, was besonders für das auf positive Globalisierungseffekte bauende deutsche Geschäftsmodell weitgehende Folgen haben dürfte.

Konfliktfelder der De-Globalisierung gegenüber Nachhaltigkeit und Arbeitsschutz

Die Zeit der De-Globalisierung hat längst begonnen. Und was eine nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und damit auch die Arbeitswelt betrifft, zeichnen sich bei holistischer Betrachtung bereits einige Konfliktfelder für die Zukunft ab. Es geht dabei um unternehmerische und staatliche Reaktionen, Inflationsfolgen, die Entwicklung prekärer Beschäftigung, zunehmenden Fachkräftemangel und die Entstehung des Einwanderungslandes Deutschland.

Unternehmerische und staatliche Reaktionen

Das sogenannte Reshoring, eine Form der De-Globalisierung durch Rückverlagerung der Produktion aus Niedriglohnländern, wird sich jedoch auf den Arbeitsmarkt in einem Hochlohnland nicht spürbar auswirken.

  • Wettbewerbsfähiges Reshoring müsste allerdings Hochlohnarbeit weitgehend durch Automation ersetzen und bedürfte deshalb sehr hoher Investitionen in Automatisierung, die viele Branchen (wie etwa die Bekleidungsindustrie) nicht tragen können.
  • Die Hoffnung, mit Reshoring Arbeitskräfte aus dem informellen Sektor der legalen Schattenwirtschaft oder aus prekären oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen wieder in Normalarbeitsverhältnisse zurückholen zu können, wird sich deshalb nur selten erfüllen.

Eine denkbare staatliche De-Globalisierungsreaktion wäre der regulatorische Protektionismus, mit dem national höhere Schutzniveaus für Arbeitnehmer, Sicherheitsstandards für Produkte oder Standards für Finanzanlagen festgeschrieben werden.

  •  Dagegen sprechen Verbotsklauseln in bestehenden Handelsabkommen (zum Beispiel mit Kanada) und in Verträgen für den freien Warenverkehr (wie in der EU).
  • Für ein vom Export stark abhängiges Land wie Deutschland schränkt dies außerdem die Märkte für den Absatz inländischer Produktion noch zusätzlich stark ein.
  • Die Chance auf national höhere Schutzniveaus für Arbeitnehmer in Zeiten der De-Globalisierung ist deshalb eher gering.

Als weiterer Aspekt der De-Globalisierung beinhaltet deshalb der staatliche Finanzprotektionismus Rettungspläne vor allem für inländische Banken zur Verhinderung des Kapitalabflusses ins Ausland.

  • Wenn jedoch nicht nur ein Land, sondern mehrere Länder gleichzeitig dieses Ziel verfolgen, bleibt der Wert der Währungen im Verhältnis zueinander zwar gleich, der reale Wert jedoch sinkt.
  • Gleichzeitig führt dies zu einer massiven Inflation und Senkung der Kaufkraft nationaler Währungen.
  • Finanzprotektionismus eignet sich deshalb – außer als Notfallintervention – nicht als nachhaltiges Instrument der De-Globalisierung.

Offensichtlich haben derartige unternehmerische und staatliche Reaktionen auf die De-Globalisierung sehr ambivalente Auswirkungen auf nachhaltige Entwicklung und Arbeitswelt; die Risiken scheinen dabei die Chancen klar zu überwiegen.

Inflation

Zum primären Inflationseffekt der De-Globalisierung treten zudem latente und bereits länger absehbare, durch den Angriffskrieg auf die Ukraine virulent werdende Verteuerungseffekte.

  • Knapper werdende Rohstoffe, die Neustrukturierung von Lieferketten und steigende Lohnkosten forcieren höhere Marktpreise für Produkte und Dienstleistungen oder für Mieten und Kaufpreise.
  • Gleichzeitig steigt das allgemeine Zinsniveau wieder an, was die fremdfinanzierte Beschaffung von Wohneigentum, Mobilität oder Produktionsmitteln weiter verteuert.

Allein 2022 verloren Löhne und Gehälter durch die andauernd hohe Inflation trotz tariflicher Erhöhungen über fünf Prozent an Kaufkraft.

  • Existenziell unvermeidliche laufende Kosten wie Nahrungsmittel, Mieten, Heiz- und Mobilitätskosten sind einer weit höheren Inflationsrate unterworfen.
  • In vielen Fällen verbrauchen solche unvermeidlichen Kosten über 70 Prozent des Familieneinkommens, während Gutverdiener oder Vermögende dafür weniger als 30 Prozent ausgeben.
  • Die aktuellen Reallohnverluste treffen deshalb die Beschäftigten in einem Betrieb abhängig von deren Einkommensniveau sehr unterschiedlich.

2022 verloren Löhne und Gehälter über fünf Prozent an Kaufkraft

Insbesondere aber wächst damit der Anteil prekär Beschäftigter in der erwerbstätigen Bevölkerung stärker an, denn für immer mehr abhängig Beschäftigte besteht ein zunehmendes Risiko, existenzielle Bedürfnisse nicht mehr decken und am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilhaben zu können.

­Wachsende prekäre Beschäftigung

Trotz Globalisierung gab es zu deren Beginn eine große Zahl sogenannter Normalarbeitsverhältnisse, die durch unbefristete, abhängige Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse charakterisiert waren. Typisch für Normalarbeitsverhältnisse sind die damit verbundenen Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche, die den Beschäftigten eine gewisse Schutzfunktion bieten.

Andere, sogenannte atypische Beschäfti­gungen bieten diese Schutzfunktion nicht.

  • Der Nachteil von Teilzeitarbeit besteht zum Beispiel in den geringeren Rentenanwartschaften; zudem beklagen Beschäftigte in befristeten Arbeitsverhältnissen ihre fehlende Beschäftigungs- und Lebensplanungssicherheit.
  • Frauen sind häufiger in atypischen Arbeitsverhältnissen zu finden als Männer. Während jedoch die atypischen Arbeitsverhältnisse der Frauen hauptsächlich durch Teilzeitbeschäftigung geprägt sind, werden atypische Arbeitsverhältnisse der Männer durch befristete Arbeitsverhältnisse verursacht.

Hier kommt der Begriff „prekäre Beschäftigung“2 ins Spiel. Darunter versteht man atypische Beschäftigungsverhältnisse mit mindestens zwei der folgenden Risikofaktoren: 3

  • Das Einkommen liegt unterhalb des Existenzminimums.
  • Entlohnt wird mit Niedriglohn.
  • Es besteht keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
  • Es besteht ein hohes Erwerbslosigkeitsrisiko.
  • Es handelt sich um einen physisch belastenden Beruf.
  • Die Arbeit ist „einfach“.
  • Es besteht kein Kündigungsschutz.

Von allen atypisch beschäftigten Männern befanden sich mehr als 40 Prozent in dauerhaft prekären Arbeitsverhältnissen. Aber selbst von den in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten erwerbstätigen Männern arbeiten etwa 20 Prozent in dauerhaft prekären Beschäftigungsverhältnissen. Normalarbeitsverhältnisse sind demnach längst keine Garantie mehr für nicht prekäre Beschäftigung. Unter sicherer, gesunder und ergonomischer Arbeit verstehen wir offensichtlich etwas anderes als die Arbeit im informellen Sektor oder prekäre Arbeit.

Zunehmender Fachkräftemangel

Die Fachkräfteknappheit hat im Jahr 2022 auch wegen der Rückholeffekte von Arbeitsplätzen aus dem Ausland weiter zugenommen; circa die Hälfte deutscher Unternehmen ist betroffen. 1,3 Millionen arbeitslosen Hilfskräften standen im vergangenen Jahr aber nur 184.000 gemeldete offene Hilfskraftstellen gegenüber. Die Arbeitslosen können leider nur begrenzt dazu beitragen, die offenen Stellen zu besetzen, denn die Hälfte ist lediglich als Helfer qualifiziert und bräuchte für 80 Prozent der gemeldeten offenen Stellen erst eine Berufsausbildung.

Die Zunahme der Beschäftigung ging in den vergangenen Jahren etwa zur Hälfte auf Frauen und auf Menschen ausländischer Herkunft zurück. Für die weitere Steigerung der Erwerbsquote muss das Potenzial von Frauen und zuwandernden Fachkräften genutzt werden. Diese Zahlen führen direkt zu einem in Deutschland (unverständlicherweise) kontrovers diskutierten Thema.

Notwendige Entwicklung zum Einwanderungsland Deutschland

Nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes werden im Jahr 2060 vier bis fünf Millionen Erwerbstätige fehlen. Die Entwicklung in anderen Industriestaaten verläuft vergleichbar – es wird auf dem europäischen Arbeitsmarkt also einen Angebotsmangel an Erwerbstätigen geben, gegen den sich der bereits heute beklagte Fachkräftemangel als volkswirtschaftlicher Phantomschmerz ausnehmen wird. Hier bleibt nur eine Konsequenz:

Im Jahr 2060 werden vier bis fünf Millionen Erwerbstätige fehlen

Deutschland muss sich im globalen Wettbewerb um Fachkräfte deutlich mehr anstrengen. Zugleich muss es sich der Herausforderung stellen, allen, die kommen oder bereits da sind, zumindest die Chance auf eine gute Ausbildung, auf den rechtlichen und sozialen Schutzraum von Normalarbeitsverhältnissen und auf bezahlbaren Wohnraum geben zu können.

Ohne Intensivierung von Sprachschulung, Weiterqualifizierung und schnellerer Aner­kennung vorhandener Qualifikationen kann aber nur ein geringer Teil dieser Zuwanderer in Deutschland als Fachkraft arbeiten.

Last, but not least: Der mit verstärkter Anwerbung von Fachkräften im Ausland verbundene vermehrte Zuzug von ausländischen Fachkräften wird die defizitäre Lage auf dem Wohnungsmarkt weiter verschlechtern und bedeutet noch höhere Mietkosten.

Am Ende zählen individuelle Schicksale

Die Wertschätzung für die „Ressource Mensch“ gilt anscheinend nur für diejenigen Beschäftigten, welche aufgrund ihrer Ausbildung, Qualifikation und Arbeitshistorie einen hinreichend betrieblichen Mehrwert versprechen. Für die anderen ist im besten Fall nur Arbeit im informellen Sektor mit unsicheren Einkommensperspektiven, der Nichtmitgliedschaft in sozialen Versicherungssystemen und einem geringen Lohnniveau verbunden.

Will Deutschland auf diese Weise mit sicherer, gesunder und ergonomischer Arbeit für immer weniger Menschen zukunftssicher wirtschaften, wenn dies nur auf Kosten einer großen und wachsenden Gruppe arbeitsfähiger und arbeitswilliger Menschen erreicht wird, die davon systematisch ausgeschlossen bleibt oder vom Staat alimentiert werden muss?

Es entsteht der Eindruck, dass auch in Zeiten der De-Globalisierung im Bereich prekärer Arbeitsverhältnisse die Themen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz weiter erodieren werden, an praktischer Bedeutung verlieren und allenfalls noch durch formale Artefakte wie vorzeigbare Funktionäre oder Organisationsdokumente repräsentiert werden. Im legalen „Schattenbereich“ des Arbeitsmarkts geht es auch weniger um allmählich ausgebaute nachhaltige Entwicklung als mehr um den täglichen Existenzkampf von Firmen und Individuen. Dies ist kein nachhaltiger Weg in die Zukunft.

Eine mögliche Begründung dafür liefern das Verständnis sozialer Systeme und ein ­individuelles Motivationskonzept. Nachhaltige Entwicklung erfordert strategisch nämlich zwei unverzichtbare Voraussetzungen:

1. Die Fähigkeit eines Systems, seine Entwicklung dauerhaft zu sichern, ohne dabei den beteiligten Individuen zu schaden und seine zukünftige Ressourcenbasis zu schmälern. Über die Wege dazu gibt es in Deutschland einen lebendigen und mannigfaltigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Diskurs, der zwar die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit nicht immer ausgewogen berücksichtigt, letztlich aber meist zur Formulierung konkreter und umsetzbarer Vorsorge- oder Schutzlösungen führt.

Charakteristisch für diese erste Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung ist ihr Fokus auf einen in der Zukunft liegenden Zeithorizont, der es uns aus einer vermeintlich sicheren Position heraus erlaubt, zum Beispiel über Maßnahmen gegen die Erhöhung der mittleren Temperatur auf der Erde oder das Abschmelzen von Polkappen, Gletschern und Grönlandeis zu sprechen. Auch das Präventionsparadigma im Arbeitsschutz muss hier als wichtiges vorausschauendes und proaktives Element genannt werden. Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass diese erste Systemfähigkeit für nachhaltige Entwicklung weder aktuell bedroht noch in der Zukunft gefährdet ist – und wir unterliegen dabei einem fatalen Irrtum.

2. Nachhaltige Entwicklung erfordert nämlich zweitens das individuell als stabil erfahrene System mit Struktur, Grenzen und Gesetzmäßigkeit, das dem Individuum ein geschütztes Leben in Sicherheit und Angstfreiheit erlaubt. Dies gilt umso mehr in Zeiten disruptiver Veränderungen und des Verlustes bekannter und gewohnter Umgebungsbedingungen, wie wir sie in den vergangenen drei Jahren erlebten.

Abraham Maslow sieht darin ein wichtiges menschliches Bedürfnis gedeckt und empfiehlt zur direkten Beobachtung dieses Sicherheitsbedürfnisses nicht ohne Grund ökonomisch oder sonst unterprivilegierte (prekäre) Gruppen oder Situationen des gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Der größte Teil arbeitsfähiger Menschen in Deutschland wird in seiner Einstellung zur Nachhaltigkeit vorwiegend durch die individuellen Erfahrungen am Arbeitsplatz, durch den Arbeitgeber und das jeweilige Unternehmen geprägt; das heißt vor allem durch die ihn direkt betreffenden Facetten der soziokulturellen Nachhaltigkeitsdimension.

Negative Erfahrungen mit dieser Dimension aus Beruf und Arbeitswelt bestimmen deshalb Zustimmung oder Ablehnung von wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Nachhaltigkeitszielen ganz entscheidend mit. Genau davon lebt in unserem Land jedoch eine erfolgreiche Nachhaltigkeitspolitik, deren Akzeptanz von überwiegend positiven Nachhaltigkeitserfahrungen der wählenden Bürger abhängt.

Solange viele Bürger als Erwerbspersonen die eigene Lebenssituation oder ihren Lebensentwurf in naher und ferner Zukunft mit wachsender Sorge als ungesichert und bedroht empfinden, bleiben für sie alle Bekundungen und Glaubensbekenntnisse zur Nachhaltigkeit pures Wunschdenken oder reine Apologetik.

Solange diese Selbstwahrnehmung individueller Zukunftsunfähigkeit besteht, wird es in Deutschland keinen gesellschaftlichen ­Konsens über gemeinsame Nachhaltigkeitsziele und keine tragfähige gesellschaftliche Unterstützung für eine nachhaltige Wirtschaft geben können. Und es gibt ohne diesen Konsens auch keine betriebliche Nachhaltigkeit und keinen dauerhaft wirksamen Arbeitsschutz.

Vielleicht benötigen Staat, Unternehmen und Betriebe gerade in der Übergangsphase von der Globalisierung zur De-Globalisierung neue, alternative Nachhaltigkeitskennzahlen für den erwirtschafteten Mehrwert, die es erlauben, auch die anteiligen, komplementär und gleichzeitig zum wirtschaftlichen Erfolg zerstörten Qualitäten in Gesellschaft und Staat mit in die Bewertung betrieblicher Nachhaltigkeit einzubeziehen.

DER AUTOR

Der Sicherheitsingenieur und promovierte Geophysiker Dr. Peter Neurieder ist Geschäftsführer der Europäischen Gesellschaft für nachhaltige Labortechnologien (EGNATON) sowie Gründer und Geschäftsführer der N&N Büro für Sicherheit GbR. Zuvor war er Beauftragter für Umwelt- und Sicherheitsfragen bei der Max-Planck-Gesellschaft in München.

Text: Dr. Peter Neurieder

1 Definition des Nachhaltigkeitsbegriffs nach EGNATON e. V., www.egnaton.com
2 Nach Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO)
3 Datenreport 2021 – Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland; Herausgeber: Statistisches Bundesamt (Destatis), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Zusammenarbeit mit SOEP am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin); S. 185
4 Maslow, A. H.: A Preface to Motivation Theory. In: Psychosomatic Med., 1943, 5, S. 85–92,
Maslow, A. H.: A Theory of Human Motivation. In: Psychological Review, 1943, Vol. 50 #4, S. 370–396, https://psychclassics.yorku.ca/Maslow/motivation.htm