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Exoskelette: eine Chance für die Prävention

Foto: AdobeStock / Gorodenkoff
Bücken und Heben in der Logistik, Überkopfarbeiten in der Automobilindustrie – viele Tätigkeiten sind körperlich belastend. Für Abhilfe könnten Exoskelette sorgen. Gerade über die Langzeiteffekte des Nutzens dieser „Roboteranzüge“ ist noch wenig bekannt. Studien wie der Exoworkathlons® wollen die wissenschaftliche Lücke schließen.
Text: Urban Daub, Verena Kopp und Mirjam Holl
Bei körperlich schwerer Arbeit sind Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE), insbesondere der Wirbelsäule und Schultern, die Hauptursache für Fehltage. Die Beschäftigten besser zu schützen, ist also dringend geboten. Zumal Fachkräftemangel und älter werdende Belegschaften den Bedarf nach Entlastung weiter erhöhen werden.
Doch der Entlastungsbedarf betrifft auch jüngere Mitarbeiter. Das Entstehen von Bandscheibenschäden im Alter wird häufig schon in jüngeren Jahren verursacht. Denn eine gute Physis kann dazu verleiten, dass den Jüngeren in der Selbsteinschätzung oder der betrieblichen Erwartungshaltung hohe Belastungen zugemutet werden. Um den beinahe exponentiellen Anstieg der MSE-bedingten Arbeitsunfähigkeitstage zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr künftig zu senken, müssen also auch junge Menschen vor hohen Belastungen geschützt werden.
Können die Gefahren nach dem STOP-Prinzip des Arbeitsschutzes nicht substituiert werden und sind auch technische sowie organisatorische Maßnahmen ausgereizt beziehungsweise nicht möglich, sind personenbezogene Maßnahmen erforderlich. Exoskelette werden in diesem Zusammenhang in vielen Unternehmen diskutiert und erwogen.
AUF DEN PUNKT
- Verschiedenste Modelle von Exoskeletten entlasten ihre Träger bei körperlich belastenden Arbeiten
- Positive Effekte sind durch Laborstudien belegt, Langzeitstudien fehlen bislang
- Der Exoworkathlon® ist ein fortlaufendes wissenschaftliches Experiment, das unter realitätsnahen Bedingungen durchgeführt wird
Exoskelette auf der A+A
Smartwatches, Fitnesstracker und andere kleine Computersysteme, die man direkt am Körper trägt, werden als Wearables bezeichnet. Exoskelette gehören auch in diese Kategorie. Ihre zunehmende Bedeutung schlägt sich auch auf der A+A nieder. Neben einer Live-Demonstration des Exoworkathlons® gibt es den „ExoPark“, wo verschiedene Hersteller ihre Produkte präsentieren und Messebesucher Exoskelette selbst ausprobieren können. Außerdem ist die WearRAcon, die europäische Konferenz zu Wearables, in die A+A integriert.
Verschiedene Systeme für verschiedene Einsatzgebiete
Der Markt für Exoskelette – am Körper getragene Assistenzsysteme, die auch als „Roboteranzüge“ bezeichnet werden – boomt seit einigen Jahren. Derzeit stehen mehr als 100 Systeme zur Verfügung, die durch ihre mechanische Wirkung den Bewegungsapparat entlasten und damit MSE vorbeugen sollen. Die Einsatzgebiete sind höchst unterschiedlich: Während beispielsweise medizinische Exoskelette das Ziel haben, fehlende Muskelkraft zu unterstützen, zielen militärische Exoskelette teilweise darauf ab, die menschliche Kraft zu verstärken. Im beruflichen Kontext werden vor allem Hebe-, Trage- und Überkopftätigkeiten sowie Arbeiten in ungünstigen Körperhaltungen unterstützt. Diese industriellen Exoskelette zielen darauf ab, die Belastung auf den Menschen zu reduzieren, ohne dabei eine Produktivitätssteigerung einzufordern.
Im Allgemeinen wird zwischen aktiven und passiven Systemen unterschieden. Aktive Exoskelette benötigen eine externe Energiequelle, um ihren kraft- oder drehmomenterzeugenden Aktor (z. B. elektrisch, pneumatisch oder hydraulisch) anzutreiben. Bei passiven Systemen nehmen Federn Energie auf und übertragen sie unterstützend auf den Menschen. Die Übersicht zeigt noch weitere Unterscheidungsmerkmale, in die sich Exoskelette unterteilen lassen.
Kategorisierung von Exoskeletten

Wo wirken Exoskelette? Wie wirken sie? Wo kommen sie zum Einsatz? Die Tabelle gibt einen Überblick über die verschiedenen Arten, die es auf dem Markt gibt. Grafische Darstellung: Liebchen+Liebchen GmbH
Wissenschaftliche Untersuchung der Wirksamkeit
Die Wirksamkeit und Funktionalität von Exoskeletten wurden bereits in zahlreichen Labor- und Feldstudien untersucht. In Feldstudien werden meist nur subjektive Parameter wie die Benutzerfreundlichkeit, das Belastungsempfinden oder auch der Diskomfort an unterschiedlichen Körperregionen über einen Fragebogen erfasst. Sowohl die biomechanischen und metabolischen Effekte als auch die Erfassung der Bewegung oder Muskelaktivierung werden meist in Laborstudien untersucht. Auch werden immer mehr digitale biomechanische Menschmodelle eingesetzt, um tieferliegende Muskelgruppen oder auch Veränderungen der Belastungen innerhalb eines Gelenks zu analysieren.

Illustration: Adobe Stock / Arcady
Kritikpunkte sind dann meist die geringe Stichprobengröße der Laborstudien und die praxisfernen Einsatzszenarien. Zudem werden als Probanden häufig Wissenschaftler eingesetzt, die kaum Erfahrungen in den industriellen Tätigkeiten haben und sich deshalb nicht so versiert bewegen, wie es routinierte Arbeiter tun würden.
Um diesen Kritikpunkten zu begegnen, hat das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA zusammen mit dem Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb IFF der Universität Stuttgart eine Methode entwickelt, um standardisiert Exoskelett-Studien durchzuführen. Somit können fortlaufend zu verschiedenen Zeitpunkten weitere vergleichbare Daten erhoben werden, die die Zahl der Stichproben fortlaufend vergrößert. Dieser sogenannte Exoworkathlon®1 ist eine speziell entwickelte Methode, die aus verschiedenen Arbeitsszenarien (sog. Parcours) besteht und gemeinsam mit Industriepartnern konzipiert wurde. Als Probanden werden junge Experten aus ihren jeweiligen Arbeitsbereichen eingesetzt. Häufig sind dies Auszubildende im dritten Lehrjahr, die in der Kooperation mit Berufsschulen oder Industriefirmen akquiriert werden.
Zum einen werden die Probanden befragt. Zum anderen sind sie bei den praxisnahen Versuchen mit Sensoren ausgestattet, um beispielsweise ihre Muskelaktivität oder die Belastung auf das Herz-Kreislauf-System zu messen. Die Tätigkeit in ihrem Arbeitsszenario – es gibt aktuell die Bereiche Logistik, Automobilmontage, Handwerk, Schweißen und bald auch Landwirtschaft – führen sie jeweils eine Stunde mit und eine Stunde ohne Exoskelett aus. Das Ergebnis besteht aus subjektiven Antworten aus der Befragung und objektiven Daten aus den Messsystemen.
Die Ergebnisse sind online öffentlich einsehbar unter www.exoworkathlon.de. Dabei stellen die Wissenschaftler kein Ranking der verschiedenen Exoskelette auf. Vielmehr geht es ihnen um eine neutrale Untersuchung, ob Exoskelette innerhalb eines einstündigen Experiments Effekte auf die Probanden haben im Vergleich zur Durchführung ohne Exoskelett, zum Beispiel bei rückenentlastenden Exoskeletten in der Logistik.
Auch für die standardisierte Erhebung subjektiver Daten bei Exoskelett-Tests in den Firmen entwickelte das Fraunhofer IPA in Abstimmung mit Exoskelett-Herstellern den sogenannten „Exo-User-Survey“. Dabei handelt es sich um ein Online-Befragungstool für Exoskelett-Anwender, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Hier sollen künftig standardisiert die Effekte während der Nutzung von Exoskeletten unabhängig von Typ und Hersteller durch die Tester in den Firmen erhoben werden.
Unternehmen bei Einführung begleiten
Immer wieder wird bemängelt, dass für die Beurteilung der präventiven Wirksamkeit von Exoskeletten hinsichtlich Muskel-Skelett-Erkrankungen kein ausreichender wissenschaftlicher Beleg vorliegt und die Langzeiteffekte nicht bekannt sind. Die Studiendaten stützen sich vorwiegend auf Laborexperimente, bei denen nur die kurzzeitigen Effekte von Exoskeletten untersucht wurden.2
Der Aspekt der Langzeiteffekte ist wichtig und zeigt Forschungsbedarfe auf. Gleichzeitig sollte er aber auch nicht zu einer unnachgiebigen Blockade bei den Unternehmen führen, sodass man die Chance von Exoskeletten als Entlastungsmöglichkeit von vornherein ausschließt. Denn positive Effekte und die physische Entlastung verschiedener biomechanischer Parameter konnten durch das Tragen von Exoskeletten in Laborstudien bereits vielfach gezeigt werden. Somit steht vorwiegend die Sorge im Raum, dass durch den Einsatz von Exoskeletten auch negative Effekte entstehen können. Beispielsweise durch das zusätzlich zu tragende Gewicht der Systeme oder den fehlerhaften Gebrauch der Exoskelette, was den Gelenken oder dem Bewegungsapparat der Träger schaden könnte.
Nicht nur diese komplexen Fragestellungen sind eine große Herausforderung für die Beurteilung von Langzeiteffekten. So ist der Exoskelett-Markt heute stark Start-up-geprägt und äußerst agil. Neue Versionen oder Typen von Exoskeletten kommen in schneller Folge auf den Markt und es besteht eine Vielzahl von Tätigkeitsbereichen, in denen Exoskelette eingesetzt werden.
Dass diese verschiedenen Systeme noch nicht in allen Anwendungsfeldern langfristig erprobt wurden, spricht nicht gegen den Einsatz von Exoskeletten, da sie für die so wichtige Entlastung körperlich tätiger Menschen ein weiteres Werkzeug und eine Chance darstellen können. Vielmehr spricht es dafür, dass die Tester und Nutzer von Exoskeletten gut informiert und angeleitet werden müssen sowie ein regelmäßiges Screening begleitend eingesetzt werden sollte.
Als unbegleiteter „Versuchsballon“ taugen Exoskelette nicht, die Unternehmen sollten damit nicht allein gelassen werden. Stattdessen sind einfach umsetzbare Tests in regelmäßigen Abständen wichtig, um mögliche negative Trends schon früh erkennen zu können. So kann beispielsweise mit der Betriebsmedizin abgestimmt werden, welche Bedenken durch die Einführung eines Exoskelettes bestehen und wie diesen Bedenken begegnet werden kann. Beispielsweise wird häufig die Sorge geäußert, dass sich die Muskulatur durch die Unterstützung von Exoskeletten abbaut. Als Kontrollmaßnahme könnten in regelmäßigen Abständen – zum Beispiel alle vier oder sechs Wochen – Krafttests bei den Beschäftigten durchgeführt werden, die früh erkennen lassen, ob das tatsächlich der Fall ist. Zusätzlich könnten die Mitarbeiter in Fragebögen um ihre Eindrücke gebeten werden, ob sie eine Minderung der Muskelkraft spüren.
Parallel zu den langfristigen Auswirkungen gibt es Faktoren, wie zum Beispiel Komfortaspekte, die unmittelbar entstehen oder sich auch schnell ändern können. Beispielsweise durch Veränderungen der Lufttemperatur und ein gesteigertes Schwitzen. Diese Aspekte sollen regelmäßiger und auf jeden Fall sehr niederschwellig untersucht werden. Hierzu eignen sich kurze Online-Feedbacks, zu denen die Exoskelett-Tester immer wieder aufgerufen werden.
Zusammenfassung und Ausblick
Viele Tätigkeiten sind mit körperlich hohen Belastungen für Beschäftigte verbunden. Exoskelette sollten als Chance betrachtet werden, die Belastung für diese Menschen zu reduzieren und somit MSE präventiv entgegenzuwirken. Zwar gibt es derzeit noch keine Studien, die belastbare Aussagen zu den Langzeiteffekten der Nutzung zuließen. Daher empfiehlt es sich, eine in Umfang und Tiefe angemessene und umsetzbare wissenschaftliche Begleitstudie durchzuführen, um bei körperlich belastenden Arbeiten das Entlastungspotenzial von Exoskeletten trotzdem nutzen zu können. Mit alltagskompatiblen, systematischen Tests können Trends in Richtung befürchteter negativer Langzeiteffekte früh erkannt und Gegenmaßnahmen eingeleitet werden.
Eine größere Zahl an Studien dürfte in Zukunft dazu beitragen, die offenen Fragen in Bezug auf die Nutzung von Exoskeletten zu beantworten. Mit dem Exoworkathlon® wurde ein Ansatz präsentiert, der auf einem realitätsnahen Szenario mit Probanden aus der jeweiligen Branche basiert und einen Standard für Laborstudien ermöglicht. Der Exo-User-Survey ermöglicht einen Standard im Nutzerfeedback bei Feldstudien.
Der Markt und die Studienlandschaft werden in den nächsten Jahren ein spannendes Themenfeld bleiben, da der Bedarf, Arbeiter körperlich zu entlasten, im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel und älter werdenden Belegschaften weiter ansteigen wird.
DIE AUTOREN
Urban Daub, Gruppenleiter der Forschungsgruppe für Angewandte Biomechanik am Fraunhofer IPA, und seine Kolleginnen Verena Kopp und Mirjam Holl beschäftigen sich mit der Untersuchung von körpergetragenen Produkten wie Prothesen, Orthesen oder Exoskeletten und ihren Auswirkungen auf den Bewegungsapparat. Ein interdisziplinäres Team mit Experten aus den Bereichen Maschinenbau, Design, Medizintechnik, Physiotherapie und Sportwissenschaften unterstützt Hersteller durch eine ganzheitliche und visionäre Sichtweise in der Erforschung, Weiterentwicklung und Evaluation ihrer Ideen und Produkte.
1 Kopp, Verena; Holl, Mirjam; Schalk, Marco; Daub, Urban; Bances Purizaca, Nelson Enrique; García, Braulio; Schalk, Ines; Siegert, Jörg; Schneider, Urs. 2022. Exoworkathlon: A Prospective Study Approach for the Evaluation of Industrial Exoskeletons. Wearable Technologies 3, 16 S. http://dx.doi.org/10.1017/wtc.2022.17
2 Steinhilber B., Luger T., Schwenkreis P. et al.: Einsatz von Exoskeletten im beruflichen Kontext zur Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention von arbeitsassoziierten muskuloskelettalen Beschwerden. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 74, 2020: 227–246.