Neuroleadership: Wie das Denken unser Handeln bestimmt

Falsche Wahrnehmungen und Denkweisen können fatale Folgen für Unternehmen haben. Das Führungsprinzip Neuroleadership zielt darauf ab, fehlerhafte Denkstrukturen zu erkennen und zu beseitigen. An ihre Stelle sollen positive Mindsets treten.

Text: Dr. Markus Ramming

Die Erforschung des Gehirns hat in den vergangenen Jahren durch neue Technologien und Methoden große Fortschritte gemacht. Sie wird getrieben durch die Idee, dass ein Verständnis des Gehirns auch zu einem besseren Verständnis unseres Selbst, unserer Entscheidungen, Denkweisen, Emotionen und Handlungen führen wird. Auch wenn man noch weit davon entfernt ist, jede der rund 80 Milliarden Nervenzellen und jedes Netzwerk zu begreifen, haben die Erkenntnisse der Neurowissenschaften ein neues Verständnis vom Denken und Handeln des Menschen geschaffen. Die Ergebnisse haben auch einen Einfluss auf die Welt der Firmenführung.

Das Gehirn ist das zentrale Steuerelement unseres Körpers. Fast alle Funktionen werden durch Netzwerke in unserem Gehirn bestimmt, die von Nervenzellen gebildet werden. Jede Nervenzelle des Gehirns verbindet sich mit 5.000 bis 10.000 anderen Nervenzellen, die diese Netzwerke bilden. Die Netzwerke entstehen und entwickeln sich im Laufe des Lebens durch Lernen. Jeder Mensch bildet entsprechend seiner Erfahrung und seinem Lernen andere Netzwerke.

Aufdecken fehlerhafter Denkstrukturen

AUF DEN PUNKT

  • Gesunde Denkweisen führen zu gesunden Mitarbeitern und erfolgreichen Unternehmen
  • Unbewusste Fehler werden systematisch aufgespürt und behoben
  • Ein positives Mindset fördert kreative Ideen und eine bessere Leistung

Durch die Informationsverarbeitung in den Netzwerken bestimmt das Gehirn alle wesentlichen Emotionen, Handlungen und Entscheidungen des Menschen. Ganz grob können wir sagen: Unser Denken bestimmt unser Handeln.

Neuroleadership nutzt diese Erkenntnisse und entwickelt Tools, die das Gehirn, seine Funktionen und sein Denken nutzen. Der Führungsansatz schaut dadurch hinter die Kulissen des Handelns und schafft durch ein neues Denken gesunde und zufriedene Mitarbeiter in gesunden und erfolgreichen Firmen. Der Kopf als Mittelpunkt der Führung grenzt Neuroleadership deutlich von allen anderen Führungsmodellen ab. Ein wichtiger Punkt im Neuroleadership ist – neben dem Verständnis der Funktionsweise des Gehirns – das Aufdecken und Beheben von fehlerhaften Denkstrukturen.

Wir glauben häufig, dass unser Gehirn immer optimal funktioniert. Doch so, wie unser Körper hier und da nicht optimal läuft, kann auch unser Gehirn Fehler machen. Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman zeigte schon vor einigen Jahren, dass unser Gehirn zu fehlerhaften Schlussfolgerungen neigt. Durch fehlerhafte Wahrnehmung und Informationsverarbeitung kommt es zu Problemen, die Kahneman „kognitive Verzerrungen“ nennt.

Im Neuroleadership spüren wir unbewusste Fehler beim Denken systematisch auf und reduzieren sie auf ein Minimum.

Auch kognitive Verzerrungen sind erlernt

Wenn wir geboren werden, haben sich erst wenige Netzwerke in unserem Kopf gebildet. Je mehr wir lernen, desto mehr Netzwerke bilden sich und strukturieren unser Denken. Wir lernen durch unser Umfeld – also Eltern, Verwandte, Freunde – und durch eigene Erfahrungen. Kognitive Verzerrungen sind auch Teil davon. Sie sind also erlernt.

Was wir gelernt haben, können wir auch wieder umlernen. Unser Gehirn ist in jeder Lebensphase veränderbar. Die Verbindungsstellen – Synapsen – bauen sich ab, auf und wieder um. In verschiedenen Regionen des Gehirns können sogar neue Nervenzellen gebildet werden. So können wir unser Denken, unsere Emotionen und unser Verhalten nachhaltig verändern.

Dass sich unser Gehirn verändern und somit entwickeln kann, nennen wir Neuroplastizität. Entwicklung findet jedoch nicht automatisch statt. Im Gegenteil: Das Gehirn braucht die richtige Stimulation und Umgebung für eine Entwicklung. Und die schaffen wir durch Neuroleadership.

Bestätigungsfehler kommt häufig vor

Das menschliche Gehirn hat Abkürzungen oder Automatismen entwickelt und gelernt, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Bei den fehlerhaften handelt es sich um systematische Störungen in der Wahrnehmung, beim Urteilen oder Erinnern. Diese kognitiven Verzerrungen laufen unbewusst ab und sind für uns selbst schwer zu bemerken. Ein Gedankengang, der uns logisch und schlüssig vorkommt, kann also trotzdem kognitiv verzerrt sein.

Wir kennen mehr als 50 verschiedene Verzerrungen. Einer der am häufigsten vorkommenden ist der Bestätigungsfehler. Er führt dazu, dass Menschen dazu neigen, eine einmal geformte Weltsicht immer wieder bestätigt zu sehen.

Ein Beispiel: Ich denke, dass ein in meiner Firma hergestelltes Produkt eine Fehlentwicklung ist. Entsprechend interpretiere ich alles, was in der Firma passiert, in einer Weise, die mir meine Sicht bestätigt. In der Firma führt das häufig zu endlosen Diskussionen und harten Kämpfen, die viel Energie, Zeit und Geld kosten.

Die gute Nachricht: Man kann kognitiven Verzerrungen entgegenwirken. Ein wichtiger Faktor ist das Erkennen der eigenen Fehler im Denken. Dazu ist es wichtig, die verschiedenen Fehler zu kennen, um sie auch bei sich festzustellen (siehe Infokasten).

Zehn Beispiele kognitiver ­Verzerrungen

Bestätigungsfehler:
Die Tendenz, Informationen so auszuwählen, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen

Attributionsfehler:
Die Neigung, die Ursache für ein Verhalten in Persönlichkeitseigenschaften zu suchen

Überzeugungsbias:
Die Tendenz, glaubwürdige Schlussfolgerungen zu akzeptieren – ob sie wahr sind oder nicht

Clustering-Illusion:
Die Neigung, in Datenströmen Muster zu sehen, auch wenn keine Muster vorhanden sind

Gender Bias:
Vorurteile gegenüber dem anderen Geschlecht, die Entscheidungen beeinflussen

Halo-Effekt:
Die Neigung, von bekannten Eigenschaften einer Person auf unbekannte Eigenschaften zu schließen

Kontroll-Illusion:
Die Annahme, zufällige Ereignisse durch eigenes Verhalten kontrollieren zu können

Ikea-Effekt:
Die Neigung, selbst zusammengebauten Gegenständen mehr Wert zuzuschreiben

Status-quo-Verzerrung:
Die Bevorzugung des Status quo gegenüber Veränderungen

Verlustaversion:
Die Tendenz, Verluste höher zu gewichten als Gewinne

Eine andere wichtige Möglichkeit der Erkennung sind Retrospektiven. Dabei werden nicht Ergebnisse, sondern die eigenen Denkstrukturen und Muster der vergangenen Wochen und Monate hinterfragt. Haben sie die eigenen Annahmen bestätigt? Haben wir richtig über die Situation gedacht oder sind wir unbewussten Einflüssen aufgesessen?

Annahmen über die derzeitige Situation und die Zukunft sind häufig ein Problem kognitiver Verzerrungen. Viele namhafte Firmen wie Kodak oder Nokia sind an falschen Annahmen und dem Bestätigungsfehler über die Zukunft gestolpert. Offensichtlich reichen einige kognitive Verzerrungen, um eine Firma in den Ruin zu treiben.

Annahmen und Schlussfolgerungen müssen belegbar sein

Neuroleadership ist deshalb von wissenschaftlichem Vorgehen überzeugt. Annahmen und Schlussfolgerungen müssen belegbar dargelegt werden. Sonst ist die Gefahr eines Bestätigungsfehlers zu groß.

Neben der Arbeit mit Gruppen ist es für jeden persönlich wichtig, seine Denkmuster zu verfeinern. Nichts ist schlimmer, als fehlerhafte Annahmen über sich selbst immer wieder bestätigt zu bekommen. Auch gestandene Manager sind vor fehlerhafter Selbstwahrnehmung nicht gefeit. Regelmäßiges Feedback alle zwei Wochen über das Denken und die Denkmuster zählt beim Neuroleadership deshalb zum Inventar guter Führung.

Mindsets tragen zu Erfolg oder Misserfolg bei

Viele Sportler, Entrepreneure und Wissenschaftler bestätigen, dass sich ein Großteil des Erfolges im Kopf abspielt. Umgekehrt ist es so, dass ein bestimmtes Mindset auch zu geringer kognitiver Leistung und mangelnden kreativen Ideen führen kann.

Das Mindset beschreibt die Denkweisen, Einstellungen oder auch die innere Haltung eines Menschen. Es ist wie das Betriebssystem eines Computers. Gleiche Informationen werden immer gleich verarbeitet und führen zum gleichen Output. Jeder Mensch hat sein eigenes Betriebssystem. Allerdings gibt es nicht wie bei kognitiven Verzerrungen nur eine Richtung, sondern gegensätzliche Interpretationen einer Situation.

Zwei gegensätzliche Mindsets zum gleichen Thema sind zum Beispiel Selbstwirksamkeit und Opferhaltung. Da gibt es möglicherweise den Kollegen, der sich ständig beklagt, weil die andere Abteilung alles falsch macht, die Konkurrenz so groß ist oder der Markt zu unübersichtlich. Wenn es nicht gut läuft, sind immer die anderen daran schuld. Man ist der Spielball der Umstände. Das ist eine typische Opferhaltung, die vielen Firmen die Dynamik nimmt.

Neuroleadership forciert die Denkweise der Selbstwirksamkeit. Statt anderen die Schuld zuzuschieben, übernimmt man Verantwortung und setzt die persönlichen Stärken für die Ziele der Firma ein. So lässt sich der eigene Anteil an der Situation erkennen und ein Weg finden, um die Situation zu verändern. Man fühlt sich nicht als Spielball, sondern gestaltet die (Arbeits-)Welt nach eigenen Vorstellungen.

So lässt sich die Selbstwirksamkeit stärken

Mindsets können durch verschiedene Techniken aktiviert und gefestigt werden. Selbstwirksamkeit zum Beispiel lässt sich durch gemeinsame Visions- und Strategieentwicklung in der Gruppe stärken. Durch gemeinsame Planung werden die Übernahme von Verantwortung und der gezielte Einsatz der persönlichen Stärken gefördert.

Das Verantwortungsbewusstsein wird durch Schaffung und Zuweisung von klar definierten Zuständigkeitsbereichen erhöht. Im Neuroleadership werden diese von den Mitarbeitern selbst entworfen. Sind die Stärken der Beschäftigten ermittelt (z. B. durch Persönlichkeitstests), gilt es, die Mitarbeiter entsprechend einzusetzen und zu fördern. Hierzu werden persönliche Entwicklungspläne erstellt. Führungskraft und Mitarbeiter besprechen die Fortschritte regelmäßig.

Denkweisen zu ändern, benötigt eine neue Sichtweise und ein neues Vorgehen im Management. Man arbeitet an der Ursache des Verhaltens, dem Denken. Ziel ist es, Fehler im Denken zu vermeiden und effektive Denkstrukturen aufzubauen, um Kreativität und eine optimale Leistungsentfaltung zu ermöglichen.

DER AUTOR:
Der promovierte Neurobiologe Dr. Markus Ramming arbeitet als Dozent für Management, Leadership und Innovation. Er war lange General Manager in der Pharmaindustrie und arbeitet seit mehr als 15 Jahren als Führungskräfte-Trainer, Coach und Keynote-Speaker. Die von ihm gegründete „Neuroleadership-Akademie“ unterstützt Unternehmen und deren Führungskräfte in ihrer Entwicklung und Transformation. Aktuell bietet Ramming den Online-Kurs „Die 4 Angriffspunkte der Neurowissenschaft, um Stress zu reduzieren“ an. www.neuroleadership-­concept.com