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Zug um Zug Sicherheit
Eine Sicherheitsfachkraft muss flexibel sein und sich ständig auf neue Gegebenheiten einstellen. Gestern Friseursalon, heute Industriebetrieb, morgen Altenheim. Wir haben einen Arbeitsschützer einen Tag lang begleitet – beim Rundgang durch eine Lokwerkstatt.
Text: Kirsten Lehnert Fotos: Christof Mattes/BAD GmbH
Die knallrot lackierte Diesellok wiegt fast 60 Tonnen. Trotzdem scheint sie beinahe schwerelos – aufgehängt an vier schweren Eisenketten – durch die Industriehalle zu schweben. Der unter dem Hallendach montierte Kran hievt den Stahlkoloss weiter auf die nächste Arbeitsposition. Hier stehen vier Monteure bereit, damit die Lok gut und sicher auf den dafür vorgesehenen Böcken aufsetzt. Dass das alles problemlos klappt, ist auch ein Verdienst von Rüdiger Schulz, der seit rund 30 Jahren als Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa) arbeitet.
Bei seinem Rundgang durch das Werk der Alstom Lokomotiven Service GmbH in Stendal erklärt Schulz, wie der Arbeitsalltag einer Sicherheitsfachkraft aussieht und wo die besonderen Herausforderungen für ihn liegen. Den Betrieb kennt er wie kaum ein anderer. Kein Wunder: Seit fast 18 Jahren berät und unterstützt Schulz diesen Standort des großen französischen Lokomotiven-Herstellers als externe Sifa im Auftrag der BAD Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH.
Von wegen altes Eisen!
280 Menschen arbeiten in dem denkmalgeschützten Werk, das 1873 als Centralwerkstatt für Lokomotiven und Wagen gegründet und von 1920 bis zur Wende als Reichsbahnausbesserungswerk Stendal (RAW) bekannt wurde. Etwa 50 Diesellokomotiven aus dem In- und Ausland werden alljährlich in Stendal instand gesetzt und modernisiert oder kommen regelmäßig zur Hauptuntersuchung her. Technisch ist die Arbeit ziemlich anspruchsvoll. Denn auch wenn die historische Hülle des Werks es nicht vermuten lässt: Im Inneren der imposanten Backsteinbauten finden modernste technische Prozesse statt. So hat sich Alstom die Dekarbonisierung der Triebwagen zur Aufgabe gemacht. Und hier in Stendal wurde ein Prototyp für eine wasserstoffbetriebene Lok entwickelt und gebaut.
Einmal pro Woche ist Rüdiger Schulz vor Ort. Gemeinsam mit Dr. Sarah Dünnhaupt, der EHS-Managerin (EHS steht für Environment, Health und Safety, also für Umwelt, Gesundheit und Sicherheit), kümmert er sich um die Arbeitssicherheit im Werk. In verschiedenen Aktionsplänen haben die beiden die Grundlage ihrer Arbeit festgehalten und für jeden Bereich einen eigenen Plan erstellt. Ob alle Maßnahmen gut umgesetzt werden, davon überzeugen sie sich bei ihren wöchentlichen Begehungen. Auch heute schaut der externe Sicherheitsexperte wieder ganz genau hin: Hat der Kranführer vor dem Anheben der Lok das Signal gegeben, dass sich niemand in der Gefahrenzone befindet? Ist der Bereich wirklich frei? Tragen die Monteure die nötige persönliche Schutzausrüstung (PSA)? Und halten alle die vorgeschriebenen Abläufe ein?
Die Demontagehalle ist vielleicht der imposanteste Arbeitsbereich des Alstom-Werks. Aber es gibt noch viele weitere Bereiche, die Rüdiger Schulz heute auf seinem Rundgang besucht. Auch wenn am Ende nur rund 20 Prozent jeder Lok erneuert werden müssen, so werden die Fahrzeuge hier fast vollständig zerlegt und in den unterschiedlichsten Gewerken bearbeitet. Ob in der Schweißerei oder in der Schmiede, ob in der Lackiererei oder im Lager: In jedem Bereich muss sich Rüdiger Schulz neuen Herausforderungen stellen – von Stolperfallen am Boden und Ergonomie am Arbeitsplatz über den sicheren Umgang mit Gefahrstoffen und den Explosions- oder Brandschutz bis hin zur Erstellung von Flucht- und Rettungsplänen.
Arbeitsschutz von Anfang an
Der Arbeitsschutz beginnt schon beim Betreten des rund 40.000 Quadratmeter großen Werksgeländes. Die wichtigsten Sicherheitshinweise sind in einem Faltblatt mit Lageplan zusammengefasst. Alle Werksbesucher erhalten es vom Pförtner zusammen mit der notwendigen Schutzausrüstung und einer kurzen Sicherheitseinweisung per Video. Sieht Rüdiger Schulz dennoch jemanden ohne Anstoßkappe oder Schutzbrille im dafür vorgesehenen Bereich, weist er ihn freundlich, aber bestimmt darauf hin. „Für einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bin ich eher lästig, aber letztlich habe ich ja auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle ihre Arbeit gut und gesund machen können, dass Prozesse entwickelt, umgesetzt und verbessert werden und alles in das bestehende Arbeitsschutzmanagementsystem einzahlt.“
Dass manche Beschäftigte in den von ihm betreuten Betrieben nicht unbedingt begeistert sind, wenn er mit seinen Ratschlägen um die Ecke kommt – daran hat er sich längst gewöhnt. „Dabei ist es doch so einfach“, erklärt der 54-Jährige: „Auf 600 Beinaheunfälle kommen 30 mit Sachschaden, 10 mit Ausfalltagen und einer mit tödlichem Ausgang.“ Das hat Frank E. Bird schon 1969 in seiner Unfallpyramide aufgezeigt. Ursache sind häufig Abweichungen von geprüften und festgelegten Abläufen oder im wahrsten Sinne des Wortes „unsicheres“ Verhalten. Systematischer Arbeits- und Gesundheitsschutz ist die notwendige Grundlage, um dem entgegenzuwirken. Das bedeutet: Wenn Sicherheit auf allen Ebenen berücksichtigt wird, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit schwerer oder sogar tödlicher Unfälle. Damit wird auch deutlich, welch große Rolle eine aktive Meldekultur spielt: „Es ist immens wichtig, dass Fehler gemeldet werden. Denn nur so sieht man, wo noch etwas verbessert werden muss“, sagt Rüdiger Schulz.
Er und Sarah Dünnhaupt sind stolz darauf, dass es im Werk seit mehr als 1.000 Tagen keinen Arbeitsunfall mehr gegeben hat. Eine entsprechende Anzeige, die gut sichtbar außen an der Ziegelhalle hängt und wöchentlich aktualisiert wird, soll die Beschäftigten motivieren, weiterhin auf Sicherheit zu achten.
Ergonomie: Auf die Haltung kommt es an
Kaum ist die Lok sicher auf den Schwerlast-Unterstellböcken über der Grube abgesetzt, schwingt sich Benedikt Schröder die steinernen Stufen hinunter in den Arbeitsbereich unter dem Triebwagen. Geschickt zwängt sich der 21-jährige Leiter der Demontageabteilung durch den schmalen Durchgang zwischen der Gitterumrandung der Grube und der massiven Kupplung. Schröder gehört zu den Jüngeren im Betrieb, es scheint ihm nichts auszumachen, sich wie ein Schlangenmensch in die Grube zu winden. Auf Dauer ist das natürlich nicht gut, erklärt Rüdiger Schulz. Und was sollen die älteren Kollegen machen, die vielleicht nicht so gelenkig sind?
Ergonomie ist ein wichtiges Thema im Werk. „Die Gefährdungsbeurteilung hat ergeben, dass viele Beschäftigte mit Muskel-Skelett-Problemen zu kämpfen haben. Die Schwere der Arbeit hat eben Spuren hinterlassen. Hier sind wir schon durch einige Maßnahmen proaktiv tätig geworden, aber uns fällt immer wieder etwas auf, was noch optimiert werden kann“, sagt Schulz.
Der Arbeitsschutzexperte hakt daher sofort nach: Kann man die Lokomotive etwas weiter nach vorne stellen, sodass der Einstiegsbereich hinten größer wird und ein moderater Einstieg möglich ist? Nein. Aber der Gitterrost am Einstieg kann verkleinert und die Einstiegstreppe angepasst werden. Eine einfache Lösung, die schnell und kostengünstig umgesetzt werden kann. Sarah Dünnhaupt notiert alles für den Aktionsplan der Werksleitung, damit sich die Arbeitsbedingungen hier schnell ändern. Und sie notiert, dass auch alle anderen Gruben unter diesem Aspekt genauer betrachtet werden sollen.
Rüdiger Schulz berichtet von einem weiteren wichtigen Thema in diesem Bereich: Bei der Arbeit unter der Lok müssen die Beschäftigten viel über Kopf arbeiten. „Meine Aufgabe ist es, die Bedingungen für die unterschiedlichsten Arbeiten im Werk so sicher wie möglich zu gestalten und körperliche Belastungen zu vermeiden.“ Schließlich wiegen die Werkzeuge oft mehrere Kilogramm und die Gefahr, sich selbst oder andere zu verletzen, ist immens.
Aufgaben einer Sifa
- Beratung der Unternehmen zu Managementsystemen, Sicherheitsstandards, Vorschriften etc.
- Aufbau von zugeschnittenen Arbeitsschutzmanagementsystemen
- Umsetzung des systemischen Arbeits- und Gesundheitsschutzes
- Integration der Arbeitssicherheit ins Management und Einbindung in Aufbau- und Ablauforganisation
- Sicherheitstechnische Überprüfung der Betriebsanlagen und technischen Arbeitsmittel
- Beobachtung der Durchführung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Unfallverhütung
- Durchführung von Sicherheitsaudits
- Schulungen der Mitarbeiter
- Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung und allen weiteren Aufgaben und Prozessen
- Störungsmanagement
- Technologische Weiterentwicklung der Sicherheitseinrichtungen
Auch für die Arbeiten außen und oben an der Lok hat Schulz die Arbeitsbedingungen optimiert: Um Fehlhaltungen zu vermeiden, wurden Treppen und separate Arbeitsbühnen angeschafft: „Vor allem für die Arbeiten an den Doppelstockwagen, die hier neuerdings auch aufgearbeitet werden, mussten wir nachrüsten.“ Für größtmögliche Sicherheit der Monteure sorgen außerdem variable Absturzsicherungen. Diese können bei Arbeiten an der Lokomotive rundum angebracht werden und bieten den Beschäftigten eine zusätzliche Möglichkeit, sich festzuhalten. „Zugegeben: Das Anbringen dieser Schutzeinrichtungen kostet Zeit. Und die fehlt im Arbeitsalltag oft“, sagt die Sifa. „Aber wenn jemand durch einen unbedachten Schritt rückwärts etwa zwei Meter tief auf den Betonboden – oder noch tiefer in die Grube – stürzt, fällt der Arbeiter oft deutlich länger aus. Von den körperlichen Schmerzen bis hin zu bleibenden Schäden ganz zu schweigen.“
Alles im Blick
„Ich muss meine Augen eigentlich überall haben“, erklärt Rüdiger Schulz bei seiner Begehung, „auch und vor allem auf dem Boden.“ Heute fällt ihm an einem Gleis im Arbeitsbereich ein großer Spalt auf, in dem die Beschäftigten mit dem Fuß stecken bleiben könnten. Schnell zückt er sein Handy und dokumentiert die mögliche Gefahrenstelle. Hier kann das Problem mit einer einfachen Abdeckung behoben werden. Nicht immer ist die Lösung so einfach, der Denkmalschutz verlangt oft besondere Zugeständnisse.
In der Lackiererei schaut Schulz als Erstes nach den Staubablagerungen. Denn bevor die Arbeiter in ihren Ganzkörper-Schutzanzügen und speziellen Visieren den Loks mit Spritzpistolen ihren neuen, glänzenden Look verpassen können, müssen die Fahrzeuge erst abgeschliffen werden. Hier macht es sich bezahlt, dass die eigens angeschafften Spezialsauger die Staubpartikel so gut aus der Luft filtern, dass sich nur geringste Ablagerungen an Wänden und Geräten wiederfinden. „Staub kann nicht nur zu gefährlichen Explosionen führen, sondern auch zu Gesundheitsschäden wie Lungen- und Hautkrebs oder Asthma“, erklärt Schulz. Hier kommt auch die Arbeitsmedizinerin Olga Levkovic ins Spiel. Die BAD-Kollegin betreut das Alstom-Werk arbeitsmedizinisch und schaut auch gemeinsam mit der Sifa zielgerichtet auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Werk, führt Begehungen durch und stellt die erforderliche Untersuchungsmedizin sicher.
Spannende Aufgaben
Besondere Schutzausrüstung ist auch in der Batterie-Aufbereitungshalle gefragt. Hier sorgt Wilhelm Lenz dafür, dass die Nickel-Kadmium-Akkus, die in die Hybridlokomotiven eingebaut werden, geprüft und sicher geladen werden. Eine durchaus spannende Mischung: 1.000 Volt und eine basische Batterieflüssigkeit voller Elektrolyte. Beim Ein- und Ausbau der dicht nebeneinanderliegenden Zellen kann es zu einem Kurzschluss und damit zu einem Lichtbogen kommen. Damit dieser im schlimmsten Fall nicht auf seinen Körper überspringt, trägt Lenz bei der Arbeit Spezialhandschuhe und eine dicke, langärmelige Schutzjacke. Ein tiefgezogenes Visier sorgt zudem dafür, dass keine Flüssigkeit ins Auge gelangen kann. Wenn das trotzdem einmal passieren sollte, steht eine Augendusche zur Verfügung. Alle bestehenden Maßnahmen wurden vor dem Projektstart gemeinsam von der EHS-Managerin und der Sifa betrachtet, die Gefährdungsbeurteilung mit allen erforderlichen umzusetzenden Maßnahmen erstellt. Erst dann wurde der Bereich auf der beschriebenen Grundlage eingerichtet und in Betrieb genommen.
Um die Sicherheit in der Halle noch weiter zu erhöhen, hat Rüdiger Schulz nachdrücklich den Einbau einer Gaswarnanlage empfohlen. Wenn bei den Arbeiten Wasserstoff austritt, steigt dieser zur Hallendecke und kann mit der Luft ein explosionsfähiges Luft-/Gasgemisch, das sogenannte Knallgas, bilden. Die Sifa unterstützt nicht nur bei der Anschaffung und Installation solcher Sicherheitseinrichtungen, auch die Zuarbeit bei der Wartung und Reparatur gehört zu ihrem Portfolio. Selbst wenn Rüdiger Schulz die Arbeiten nicht persönlich durchführt, muss er zumindest mitwirkend sicherstellen, dass alle Geräte und Maschinen im ordnungsgemäßen Zustand sind und nur von eingewiesenem fachkundigem Personal bedient werden.
Mit Sicherheit dabei
Rüdiger Schulz liebt seine Arbeit: „Mir macht es Spaß – das Mitmachen, das Gestalten, das Entwickeln, das Planen und das Unterstützen.“ Alles geschieht meist in enger Abstimmung mit den Unternehmen. Die seien oft sehr kooperativ, schließlich gehe es auch schon im Vorfeld darum, etwa durch Schäden oder Personalausfall bedingte Kosten zu vermeiden. Jeden Tag aufs Neue begeistert sich Schulz für die Vielfalt seines Berufs – und für das abwechslungsreiche Arbeitsumfeld. Denn als Sifa betreut er nicht nur große Industriebetriebe, sondern auch ganz unterschiedliche Unternehmen: vom Friseursalon über die Arztpraxis und das Alten- und Pflegeheim bis hin zum Nahrungsmittelproduzenten. Auch die Themen und Technologien ändern sich ständig. Deshalb lernt eine Sifa nie aus. „Als im Alstom-Werk in Stendal die Wasserstoff-Lok entwickelt wurde, musste ich mich in ein weiteres neues Thema einarbeiten und mich selbst erst einmal schlaumachen“, gibt Schulz ein Beispiel.
Gefahr im Verzug
Im Werk hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert: Neue Technologien und Prozesse wurden entwickelt und eingesetzt, Hallen angepasst, Arbeitsabläufe sicherer und effektiver gestaltet, neue Räume geschaffen. In Sachen PSA hat sich ebenfalls eine Menge getan. Und Rüdiger Schulz macht ein gestiegenes Bewusstsein der Beschäftigten für guten Arbeitsschutz aus.
Auch die Arbeit der Sifa hat sich gewandelt: „Wir entwickeln uns heute immer mehr von der ‚normalen‘ Sifa hin zum ganzheitlichen Berater für unsere Kunden“, erklärt Schulz. „Heute geht es vor allem darum, beim Arbeitsschutz nicht nur mit Einzelmaßnahmen nachzubessern und zu reagieren, sondern das Thema proaktiv und ganzheitlich anzugehen und vor die Welle zu kommen. Der systemische Arbeits- und Gesundheitsschutz ist nunmehr eine unserer großen Aufgaben, Managementsysteme sind eingeführt und werden gelebt. Wir sind bereits fester Bestandteil.“
Rüdiger Schulz ist froh, dass er durch seine Hinweise im Vorfeld oft Schlimmeres verhindern konnte. Nur ganz selten in seinem Berufsleben als Sifa war Gefahr im Verzug und er musste sofort eingreifen. „Ich freue mich, dass ich die Arbeitssicherheit bei den von mir betreuten Kunden jeden Tag ein bisschen verbessern kann – und zwar nachhaltig und Zug um Zug!“
DIE AUTORIN:
Kirsten Lehnert arbeitet als Referentin für Unternehmenskommunikation bei der BAD Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik GmbH in Bonn. Das Unternehmen berät bundesweit zu Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Gesundheitsmanagement und bietet Dienstleistungen zur betrieblichen Gesundheitsvorsorge an. www.bad-gmbh.de