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Arbeitsunfall bei der Schaltschrank-Demontage

Foto: AdobeStock/AA+W
Freischalten, gegen Wiedereinschalten sichern, Spannungsfreiheit feststellen, Erden und Kurzschließen sowie benachbarte, unter Spannung stehende Teile abdecken oder abschranken – so lauten die fünf Sicherheitsregeln für die Arbeit an elektrotechnischen Anlagen. Wie wichtig deren Einhaltung ist, zeigt ein Fall aus Sachsen.
Der Fall
Ein Unternehmen kaufte Schaltschränke „zum Zwecke der Demontage und (Schrott-)Verwertung“ und sollte sie selbst beim Verkäufer abbauen und abholen. „Im Rahmen einer Vor-Ort-Besichtigung am 28. Februar 2015 wurde dem Betriebsleiter von einem Zeugen1 zur Kenntnis gegeben, dass vier Schaltschränke auf der rechten Seite der bezeichneten Schaltstation noch unter Strom beziehungsweise Spannung standen, so dass ihm bekannt war, dass die geplanten Demontagearbeiten in der Schaltstation in Zusammenhang mit einer in Betrieb befindlichen elektrischen Anlage erfolgen mussten.“
Am 18. März 2015 erteilte der Betriebsleiter B. einem in einer „Tochterfirma“ angestellten „Monteur- und Lagerhelfer“ G. und anderen „polnischen Gewerbetreibenden“ den „Auftrag, die restlichen Schaltschränke zu demontieren“. Aber B. „unterließ es, die Arbeitsstelle vor Auftragserteilung gemäß DIN VDE 0105-100 Betrieb von elektrischen Anlagen Nr. 6.2. nach entsprechender Sicherheitsprüfung – Abgrenzung spannungsführender Anlagenteile, Feststellung der Spannungsfreiheit – durch eine Elektrofachkraft freigeben zu lassen. Dieses Versäumnis hatte zur Folge, dass G., der – wie auch die anderen Beteiligten – nicht über die Qualifikation einer Elektrofachkraft verfügte, am 18. März 2015 gegen 8:50 Uhr bei dem Versuch, die Stromschienen des auf der rechten Seite stehenden Schaltschrankes von den noch unter Spannung stehenden voranstehenden drei Schaltschränken zu lösen, einen elektrischen Schlag (30 kV) erhielt, an dessen Folgen er unmittelbar nachfolgend verstarb“.
Das Urteil
Das Amtsgericht Freiberg in Sachsen verurteilte den Betriebsleiter B. wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen – ein Tagessatz betrug einkommensabhängig 35 Euro, sodass er 4.550 Euro zahlen musste.
Was ist erforderlich für eine solche strafrechtliche Verurteilung? Eine
- verantwortliche Person muss
- ihre Pflichten verletzt haben – und zwar
- schuldhaft, also auch fahrlässig.
Verantwortung des Betriebsleiters
Die Verantwortung für das Geschehen trägt der Betriebsleiter aus zwei Gründen2:
- Erstens ist ein Betriebsleiter verantwortlich für den gesamten Betrieb – deshalb heißt er Betriebsleiter. Nach der Kollision von zwei Magnetschwebebahnen im Emsland am 22. September 2006 verurteilte das Landgericht Osnabrück den früheren und den aktuellen Betriebsleiter wegen fahrlässiger Tötung und fasste zusammen: „Kraft der übernommenen Verantwortung trifft die Verkehrssicherungspflicht nicht nur das betreibende Unternehmen, sondern auch die einzelne (natürliche) Person, die die Erfüllung der mit dieser Versicherungspflicht zusammenhängenden Aufgaben übernimmt“ – und die „beiden Betriebsleiter waren rechtlich dafür verantwortlich, zur Abwendung des Erfolgs3 zu handeln, und hatten damit eine sogenannte Garantenstellung inne. Der Inhaber eines Betriebes sowie geschäftsführungs- und kontrollbefugte Personen – also auch die Angeklagten als Betriebsleiter – müssen die dort beschäftigten und verkehrenden Personen gegen Betriebsgefahren schützen und insbesondere gefährliche Arbeitsvorgänge absichern. Diese Verkehrssicherungspflicht bedeutet im Ergebnis eine Pflicht zum Handeln zur Gefahrenabwehr aufgrund der selbst gesetzten Gefahr und der für die Gefahrenquelle übernommenen Verantwortung“4.
- Zweitens ist ein Vorgesetzter verantwortlich für alle seine Weisungen und hat Fürsorgepflichten sowie Personalverantwortung. Unerheblich ist, dass der Geschädigte G. nicht im Unternehmen angestellt ist, in dem B. Betriebsleiter ist, sondern in einer „Tochterfirma“. Es kommt nur auf die Weisung an und dass die Angewiesenen dem gefolgt sind. Denn entscheidend ist die „gelebte Organisation“. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) drückt es so aus5: „Vorgesetzte ohne Verantwortung gibt es nicht. Wer es ablehnt Verantwortung zu tragen, kann nicht Vorgesetzter sein. Führungskräfte sind schon aufgrund ihres Arbeitsvertrages verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnis die zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erforderlichen Maßnahmen und Anordnungen zu treffen.“
Für das Arbeitsschutzrecht ist die Verantwortung von Betriebsleitern in § 13 Abs. 1 Nr. 4 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) festgeschrieben. Für das Strafrecht gibt es auch eine konkrete Vorschrift – es ist ein großes Versäumnis des Amtsgerichts Freiberg, sie für das Urteil nicht heranzuziehen. Da es nicht um positives Tun, sondern um Nichtstun beziehungsweise Unterlassen von Sicherheitsmaßnahmen geht, hätte das Gericht § 13 des Strafgesetzbuches (StGB) heranziehen müssen.6 Jeder „Wer“ im Sinne dieser Vorschrift hat eine Garantenstellung und entsprechende Garantenpflichten zur Gewährleistung von Sicherheit. Eine solche Garantenposition haben automatisch alle Führungskräfte für ihren Zuständigkeitsbereich – also auch der Betriebsleiter für den gesamten Betrieb.
Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)
§ 13 Verantwortliche Personen
(1) Verantwortlich für die Erfüllung der sich aus diesem Abschnitt ergebenden Pflichten sind neben dem Arbeitgeber …
4. Personen, die mit der Leitung eines Unternehmens oder eines Betriebes beauftragt sind, im Rahmen der ihnen übertragenen Aufgaben und Befugnisse,
Strafgesetzbuch (StGB)
§ 13 Begehen durch Unterlassen
(1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt …
Aber unterließ es B. als Garant i.S.d. § 13 StGB, den (Miss-)Erfolg des Unfalls und den Tod des G. abzuwenden? Und muss er aufgrund seiner Leitungsfunktion „einstehen“?
Pflichtverletzung des Betriebsleiters
Im Sachverhalt des Urteils heißt es, „unter Außerachtlassung der ihm obliegenden und bekannten Sorgfaltspflichten unterließ es B., die Arbeitsstelle vor Auftragserteilung gemäß DIN VDE 0105-100 Betrieb von elektrischen Anlagen durch eine Elektrofachkraft freigeben zu lassen“. Dieses Unterlassen ist die Pflichtverletzung des Betriebsleiters B.
Aber das Gericht schildert in der rechtlichen Würdigung im Urteil noch einmal: „Damit hat sich der Angeklagte der fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB schuldig gemacht. Er hat die ihm gemäß DIN VDE 0105-100 obliegende Verpflichtung, die Anlage nach entsprechender Sicherheitsprüfung durch eine Elektrofachkraft freigeben zu lassen bzw. die Arbeiten in Anwesenheit einer Elektrofachkraft durchführen zu lassen, nicht erfüllt. Diese Sorgfaltspflichtverletzung ist kausal für den Tod des Geschädigten.“
§ 222 StGB über die fahrlässige Tötung lautet schlicht: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht“, wird bestraft. Ein konkreter Handlungsmaßstab oder konkrete Pflichten sind nicht geregelt. Insoweit behilft sich die Rechtsprechung mit technischen Normen, die herangezogen werden.7 Nach einem Stromunfall in einem Umspannwerk hieß es in den Haftungsurteilen zur VDE 0105, „für Gewerbebetriebe wird die Verkehrssicherungspflicht durch die einschlägigen DIN-Vorschriften und Unfallverhütungsvorschriften konkretisiert. Sie konkretisieren die maßgeblichen berechtigten Verhaltenserwartungen des Verkehrs gegenüber dem Sicherungspflichtigen“.8
DIN VDE 0105-100 Betrieb von elektrischen Anlagen – Teil 100: Allgemeine Festlegungen
Dieser Abschnitt behandelt die wesentlichen Anforderungen („die fünf Sicherheitsregeln“) zum Herstellen und Sicherstellen des spannungsfreien Zustandes an der Arbeitsstelle für die Dauer der Arbeit. Dies erfordert die eindeutige Festlegung des Arbeitsbereichs. Nachdem die betroffenen Anlagenteile festgelegt sind, müssen die folgenden fünf wesentlichen Anforderungen in der angegebenen Reihenfolge eingehalten werden, sofern es nicht wichtige Gründe gibt, davon abzuweichen:
- Freischalten
- gegen Wiedereinschalten sichern
- Spannungsfreiheit feststellen
- Erden und Kurzschließen
- benachbarte, unter Spannung stehende Teile abdecken oder abschranken
Jeder Arbeitsverantwortliche erhält nur vom Anlagenverantwortlichen die Durchführungserlaubnis. Alle an der Arbeit beteiligten Personen müssen Elektrofachkräfte oder elektrotechnisch unterwiesene Personen oder unter der Aufsichtführung einer solchen Person stehen.
Verschulden = Fahrlässigkeit
Jede Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist persönliche Vorwerfbarkeit. § 222 StGB erfordert Fahrlässigkeit. Es gibt zwei Wege, wie man die Fahrlässigkeit begründen kann:
- Erstens kann Fahrlässigkeit definiert werden als Unsorgfältigkeit, denn § 276 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) definiert: „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“ Hier spricht das Gericht von der „Außerachtlassung der ihm obliegenden und bekannten Sorgfaltspflichten“.
- Zweitens kann Fahrlässigkeit definiert werden als Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit des Unfalls beziehungsweise Schadens. Hier sagt das Gericht: „Dieses Versäumnis“ – also die Unterlassung – „hatte für den Angeklagten vorhersehbar und unvermeidbar zur Folge, dass der Geschädigte einen elektrischen Schlag (30 kV) erhielt, an dessen Folgen G. unmittelbar nachfolgend verstarb“. Es hätte heißen müssen: „vorhersehbar und vermeidbar“, nicht unvermeidbar – das ist einerseits ein schwerer Fehler, anderseits führt er aber nicht zur Aufhebbarkeit des Urteils, denn es ist ersichtlich nur ein Schreibfehler.
Strafzumessung
Das Amtsgericht sagt: „§ 222 StGB sieht Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren vor“ – und missachtet dabei § 13 Abs. 2 StGB – so wie es ja schon den ganzen § 13 StGB nicht zur Kenntnis genommen hat. Es heißt bei Unterlassungsstraftaten: „Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden“ – und dort steht dann: „Ist eine Milderung nach dieser Vorschrift vorgeschrieben oder zugelassen, so gilt für die Milderung bei zeitiger Freiheitsstrafe folgendes“: Es „darf höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden. Bei Geldstrafe gilt dasselbe für die Höchstzahl der Tagessätze.“ Also ist der Strafrahmen nur bis zu 3 ¾ Jahre.
Das Gericht sagt: „Zu Lasten des Angeklagten war zu berücksichtigen, dass
- ihm die Gefahrenquelle durchaus bewusst war und
- aufgrund der sprachlichen Barrieren des Geschädigten und anderer Mitarbeiter die Arbeiten in einer Hochspannungsstation ein erhöhtes Risiko darstellten.“9
Zugunsten des Angeklagten berücksichtigte das Gericht:
- dass er „strafrechtlich bisher nicht in Erscheinung getreten ist“, also nicht vorbestraft ist
- dass er „bereits zu Beginn der Hauptverhandlung ein umfassendes Geständnis abgelegt und Reue gezeigt hat“
- dass „er sich nach dem Tod des Geschädigten um die Beerdigung, die Förmlichkeiten, Beantragung der Witwenrente, Geldzahlungen an die Witwe gekümmert hat“
- dass „der Geschädigte ein hohes Eigenverschulden hatte“. Ein Zeuge10 „wies den Geschädigten zweimal darauf hin, dass die Arbeiten in der Schaltstation nur durch eine Elektrofachkraft durchgeführt werden dürften und er die Arbeiten einstellen solle. Für den Geschädigten war anhand der Warnzeichen an der Tür der Schaltstation und nochmals an den Schaltschränken ersichtlich, dass es sich hier um elektrische Anlagen mit Hochspannung und daraus bedingter Lebensgefahr handelte“
- dass „die Pflichtverletzung des Angeklagten durch die Gedankenlosigkeit weiterer Personen, insbesondere im Hinblick auf den Verwahrungsort des Schlüssels zur Schaltstation, begünstigt wurde“
- dass „die Spannungsfreiheit des 4. Schaltschrankes, an der der Geschädigte verunglückte, von anderer Seite behauptet wurde. Nur so ist auch zu erklären, dass der Angeklagte selbst etwa eine Woche zuvor an dem besagten 4. Schaltschrank gearbeitet hat“. Er hatte angenommen, dass der Schrank nicht mehr unter Strom stehen würde.
Diese beiden letzten Gesichtspunkte tauchen nur in der Strafzumessung auf – wir wissen nichts weiter über diese „anderen Personen“, insbesondere nicht, wer wann und warum Spannungsfreiheit behauptet hat.
DER AUTOR
Dr. Thomas Wilrich ist Professor an der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen der Hochschule München. Als Rechtsanwalt ist er unter anderem in den Bereichen Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Baurecht, Betriebssicherheit sowie Produktsicherheits- und Produkthaftungsrecht tätig. Als Autor hat er zahlreiche Bücher geschrieben, die sich an Führungskräfte und Arbeitsschutzakteure richten (u. a. „Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure“ und „Technik-Verantwortung: Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte – Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte“).
1 Wahrscheinlich ein Mitarbeiter des verkaufenden Unternehmens.2 LG Osnabrück, Urteil v. 20.09.2013 (Az. 10 KLs 16/13).
2 Siehe Wilrich, Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte und Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte, 2022.
3 Gemeint ist hier der Unfall bzw. (Personen-)Schaden, also letztlich der Misserfolg, also das Ergebnis, die Folge, die Konsequenz.
4 LG Osnabrück, Urteil v. 03.03.2008 (Az. 10 KLs 8/09) – besprochen in Wilrich, Technik-Verantwortung (Fußnote 2).
5 DGUV Information 211-006 Sicherheit und Gesundheitsschutz durch Koordinieren, Abschnitt 3 und 5.
6 Ausführlich Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld – mit 33 Gerichtsurteilen, 2020.
7 Siehe Wilrich, Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten, 2017.
8 LG Aachen, Urteil v. 10.09.1999 (Az. 9 O 538/97) und OLG Köln, Urteil v. 09.01.2002 (Az. 11 U 228/99).
9 Zahlreiche Urteilsanalysen zu Unfällen von nicht genügend Deutsch sprechenden Beschäftigten in Wilrich/Wilrich, Gefahrstoffrecht vor Gericht – 40 Urteilsanalysen zum Arbeitsschutz und zur Haftung nach Chemikalien- und Explosionsunfällen, 2021.
10 Wahrscheinlich der Mitarbeiter des verkaufenden Unternehmens.