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Wie digitaler Stress entsteht – und was dagegen hilft

Foto: Adobe Stock / master1305
Digitale Medien sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Und auch die Arbeitswelt befindet sich durch die Digitalisierung im Wandel. Neben vielen Vorteilen ergeben sich auch neue Herausforderungen und Belastungen. Digitaler Stress gehört für einen Großteil der Beschäftigten zum Arbeitsalltag.
Herausforderungen durch neue Arbeitsweisen
Wer kennt es nicht? Sie arbeiten gerade an einer Aufgabe, da kommt eine E-Mail rein. Beim Überfliegen des Inhaltes klingelt Ihr Telefon. Plötzlich blinkt im Kalender die Erinnerung an den nächsten Termin in fünf Minuten auf. Das Abarbeiten der eigentlichen Aufgabe bleibt auf der Strecke. Es entsteht Stress.
Die Stressreaktion ist eigentlich ein hilfreicher Mechanismus im Körper, der auf biologischer Ebene alle Kräfte mobilisiert, damit herausfordernde Situationen unbeschadet bewältigt werden können. Wenn nach so einer Reaktion Regeneration – also Erholung – folgt, führt der Prozess zu Weiterentwicklung und Wachstum. Schließt sich jedoch direkt die nächste stressige Situation an, entsteht mit der Zeit chronischer Stress. Der Stresspegel ist dann dauerhaft hoch, was für den menschlichen Organismus viel zu anstrengend ist. Die Folge sind stressbedingte Erkrankungen.
Zu jedem Stressprozess gehören sogenannte Stressoren. Sie sind die Faktoren, die den Stressprozess auslösen. Mehr und mehr rücken auch digitale Medien in den Mittelpunkt der Betrachtung. Schätzt eine Person im Umgang mit digitalen Medien ihre individuellen und situativen Ressourcen im Vergleich zur Belastung zu niedrig ein, kann als negative Beanspruchungsfolge eine Stressreaktion resultieren.1
Diese durch den Umgang mit digitalen Medien ausgelöste Stressreaktion wird als digitaler Stress bezeichnet. Das gilt sowohl durch die Art und Dauer der Nutzung als auch durch das Medium selbst. Digitale Medien gehören aktuell zu den größten Stressauslösern unserer Zeit. Denn da sie sowohl im Arbeitsalltag als auch in der Freizeit ständig präsent sind, gibt es unzählige Auslöser.
Das Besondere an digitalem Stress ist, dass die Stressreaktion häufig nicht in direktem Zusammenhang mit den Stressoren steht. Der Druck durch ständige Erreichbarkeit oder Informationsflut kommt nicht auf einen Schlag, sondern steigt stetig an. Digitaler Stress wirkt schleichend und unterbewusst. Bisher werden Stresssymptome wie innere Unruhe, Schlafstörungen oder Probleme mit dem Abschalten wenig mit der Nutzung digitaler Medien in Verbindung gebracht, obwohl in vielen Fällen ein Zusammenhang besteht.
Leistungsüberwachung, Verletzung der Privatsphäre und Unzuverlässigkeit
Digitaler Stress wird durch unterschiedliche Belastungsfaktoren ausgelöst.
Gimpel et al. stellen in ihren Untersuchungen zwölf Belastungsfaktoren digitaler Arbeit auf.2 Für die Befragten sind eine Leistungsüberwachung und die Verletzung der Privatsphäre die größten Belastungen bei der digitalen Arbeit. Zur Reduzierung dieser Belastungsfaktoren muss auf organisatorischer Ebene angesetzt werden. Selbst beeinflussen können Beschäftigte vor allem die Faktoren Unterbrechung, Überflutung und Omnipräsenz. Die Faktoren steigen rasant an und mehr als jeder achte Befragte berichtet bereits von starken bis sehr starken Belastungsfaktoren bei der Arbeit.3
Dabei ist anzumerken, dass mit steigender Unternehmensgröße auch die Belastungsfaktoren zunehmen. Digitaler Stress geht mit sozialen Konflikten und einer hohen emotionalen Anforderung einher. Entgegen der eigentlichen Vermutung ist digitaler Stress vor allem in innovativen Unternehmen weit verbreitet (ebd.).
Außerdem lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Digitalisierungsgrad und dem Stresserleben erkennen (ebd.). Je höher der Digitalisierungsgrad in einem Unternehmen ist, desto höher sind die Fragmentierungsquote und das Multitasking. Und je höher die Fragmentierungsquote, desto höher ist das Stresserleben.
Wie digitale Medien ablenken
Digitaler Stress hat nicht nur einen negativen Einfluss auf die Gesundheit, sondern auch auf die Produktivität. Digitale Medien rauben die Aufmerksamkeit, sorgen für Unterbrechungen und stören damit den Arbeitsfluss.
Unser Gehirn hat einen starken Hunger nach neuen Informationen. Das Belohnungssystem im Gehirn ist dafür ein wichtiger Antreiber. Es feuert unseren Drang nach neuen Informationen und Abwechslung an. Hinzu kommt, dass beim Verfolgen von einem Ziel oder einer Aufgabe unsere dafür notwendigen Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken immer im Wettbewerb mit denen stehen, die unmittelbar der Befriedung anderer Bedürfnisse dienen. Und wer gewinnt? Natürlich die Bedürfnisse. Denn die sichern im Zweifelsfall immer das Überleben. Dabei kann unser Gehirn nicht unterscheiden, ob es sich um ein überlebenswichtiges Bedürfnis – wie zum Beispiel Trinken – handelt oder um eine nette Abwechslung durch digitale Medien.
Unser Gehirn hat einen starken Hunger nach neuen Informationen
Sobald irgendetwas blinkt oder piept, lässt sich unser Gehirn daher ablenken. Und wenn die Konzentration weg ist, scheint es viel leichter, aufs Smartphone zu schauen, als einfach mal kurz gar nichts zu machen oder sich Zeit für eine bewusste Mini-Pause zu nehmen.
Alle vier Minuten eine Unterbrechung
Das menschliche Gehirn ist also sehr sensibel für Ablenkungen. Durch die Einführung von digitalen Technologien und Kommunikationstools ergeben sich ständig Möglichkeiten der Ablenkung und Unterbrechung. In der Tagebuchstudie von Next Innovation haben Beschäftigte im Wissenschaftsbereich und qualifizierte Sachbearbeiter ihren Arbeitstag dokumentiert.4 Heraus kam: Sie wurden alle vier Minuten in ihrer Arbeit unterbrochen. Daraus geht hervor, dass Beschäftigte in deutschen Unternehmen im Durchschnitt 15 Mal pro Stunde in ihrer Arbeit unterbrochen werden. Das hat schwerwiegende Folgen für die Gesundheit, aber ebenfalls Einbußen in Milliardenhöhe für die Unternehmen.
Innere vs. äußere Fragmentierung
Die innere Fragmentierung geschieht ohne äußere Reize. Dazu gehören also etwa ein Prüfen der E-Mails ohne Anlass oder der Blick aufs Handy. Äußerer Fragmentierung liegt ein Reiz von außen vor. Spannend dabei ist, dass das Verhältnis von innerer zu äußerer Fragmentierung bei allen Probanden relativ ähnlich war. 60 Prozent der Unterbrechungen erfolgten von außen und 40 Prozent von innen. Zwei Fünftel der Unterbrechungen verursachen die Beschäftigten also selbst.
Digitales Arbeiten benötigt Pausen
Eine erhöhte Belastung entsteht außerdem dadurch, dass das bloße Arbeiten am Computer zu stärkerer mentaler Ermüdung und zum Schwund kognitiver Ressourcen führt. Das parallele Abarbeiten von Aufgaben (Multitasking) ist sehr ermüdend.
Multitasking ist sehr ermüdend
Durch die Beschleunigung und Verdichtung der Prozesse ist digitales Arbeiten anstrengender als analoges und ohne Pause steigt unser Stresslevel nachweisbar an, etwa in nacheinander folgenden Online-Meetings.
Eine 2021 durchgeführte Studie des Microsoft Human Factors Lab zeigte auf, dass direkt aufeinanderfolgende Online-Meetings die durchschnittliche Beta-Wellen-Aktivität im Gehirn erhöhen und sich der Stress förmlich aufstaut.5 Zudem sinkt die Beteiligung der Teilnehmenden bei jedem anschließenden Meeting. Werden allerdings nach jedem Online-Meeting zehn Minuten Pause eingelegt, ist das Stresslevel in den Meetings deutlich reduziert und die Beteiligung steigt wieder an.
Verstärkt wird dieser Effekt, wenn zwischen den Meetings außerdem noch Meditationspausen eingelegt werden. Aufmerksamkeit und Engagement während der Sitzung nehmen dann zu. Das zeigt, dass es dem Gehirn unter Stress schwerer fällt, konzentriert und engagiert zu bleiben, und dass regelmäßige Pausen Voraussetzung für Aufmerksamkeit und Beteiligung sind.
Steigende Arbeitsbelastung durch die Nutzung digitaler Medien
In vielen Unternehmen herrscht das Problem, dass die Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung als zu hoch erlebt wird. Doch die Studie zu Arbeitsunterbrechungen von Starker et al. (2022) zeigt, dass die Arbeitsmenge nicht per se zu hoch ist. Die hohe Fragmentierung, der daraus resultierende Zeitverlust und das steigende Stresslevel haben negative Auswirkungen auf die Bewältigung der bestehenden Arbeitsmenge. Durch ständige Unterbrechungen fehlt die Zeit, die Aufgaben rechtzeitig und fokussiert zu erledigen. Dadurch steigt der Arbeitsdruck.
Selbstbestimmte Mediennutzung statt Digital Detox
Auf der Suche nach Möglichkeiten zum Umgang mit diesen Herausforderungen stößt man zwangsläufig auf Digital Detox – das ist der völlige Verzicht auf digitale Medien. Sicherlich kann das für eine kurze Zeit gut helfen, sich der Abhängigkeit von den digitalen Medien bewusst zu werden. Alltagstauglich ist es in unserer heutigen Zeit allerdings nicht. Was es braucht, ist eine selbstbestimmte Mediennutzung in Verbindung mit einem ganzheitlichen Blick auf das Thema Stress. Das führt dazu, dass Menschen digitale Medien gesund, produktiv und als Hilfsmittel einsetzen, ohne unter den Belastungen zu leiden.
Digitalem Stress am Arbeitsplatz entgegenwirken
Digitalem Stress am Arbeitsplatz kann durch eine Vielzahl von organisatorischen und individuellen Faktoren entgegengewirkt werden. Ausgangspunkt ist der jeweilige Belastungsfaktor: Um Überflutung zu vermeiden, gilt es, von Multi- auf Monotasking zu setzen und die Anzahl der verwendeten Tools zu reduzieren. Das Etablieren von Fokuszeiten führt dazu, dass Unterbrechungen reduziert werden. Das Wissen über die Mechanismen der digitalen Medien und das Bewusstsein, dass eine erhöhte Belastung durch digitales Arbeiten entsteht, gehören zum Verständnis für einen gesunden Umgang damit. Mitarbeitende müssen für ihre private Nutzung sensibilisiert werden, Unternehmen müssen gleichermaßen gesunde Strukturen schaffen. Feste Zeiten für Erreichbarkeit statt ständiger Verfügbarkeit, gezieltes Auswählen einzelner Kommunikationstools statt unzähliger Kanäle und die Einbindung der Mitarbeitenden in den Digitalisierungsprozess sind Ansatzpunkte.
(Mentale) Gesundheit stärken
Das von Lazarus und Folkman entwickelte transaktionale Stressmodell, das als Grundlage für die heutige Betrachtung von Stress gilt, sieht Stress als komplexen Wechselwirkungsprozess zwischen den Anforderungen der Situation und der handelnden Person.6 Dabei kommt der Bewertung der Person eine ausschlaggebende Rolle zu. Menschen sind für verschiedene Stressoren unterschiedlich anfällig. Was für die eine Person hochgradig Stress auslösend ist, bereitet einer anderen Person Freude.
Was für eine Person Stress auslöst, bereitet einer anderen Person Freude
Diese Bewertung hat auch für die digitalen Medien als Stressoren eine große Bedeutung. Manche Personen stört ein überfülltes E-Mail-Postfach oder das Abhalten von Online-Meetings nicht. Bei anderen löst jede einkommende E-Mail oder jedes Online-Meeting im Kalender dagegen puren Stress aus. Auch die eigene Erwartung an die Erreichbarkeit wird sehr unterschiedlich wahrgenommen. Bei vielen Menschen sind Gedanken vorherrschend wie:
- Ich muss ständig erreichbar sein.
- Ich muss sofort reagieren, wenn mir eine Person schreibt.
- Die anderen erwarten von mir, dass ich sofort antworte.
Diese Gedanken lösen großen Druck aus und können auf Dauer ein Gefühl von innerer Unruhe hervorrufen. Aber wer schreibt die ständige Erreichbarkeit vor? Sich von diesen vorherrschenden Gedanken und Einstellungen zu lösen, reduziert Druck und den damit verbundenen Stress.
Stress gehört heutzutage zu den größten gesundheitlichen Risiken. In den vergangenen Jahren ist ein unglaublich rascher Anstieg psychischer Krankheiten zu verzeichnen. Globale Herausforderungen wie die Corona-Pandemie, aber auch Unsicherheiten durch Krieg und Energiekrise tragen ihren Anteil dazu bei, ebenso die rasanten Veränderungen durch die Digitalisierung und der Anstieg der digitalen Belastungsfaktoren. Um (digitalen) Stress dauerhaft und nachhaltig zu reduzieren, braucht es eine ganzheitliche Betrachtung. Menschen müssen darin unterstützt werden, ihre persönlichen Ressourcen und Strategien für den Umgang mit Stress zu etablieren.
DIE AUTORINNEN:
1 Gimpel, H., Lanzl, J., Osberghaus, K., Regal, C. (2021). Prävention von digitalem Stress in der Praxis: Erkenntnisse aus drei Fallstudien in kleineren und mittleren Unternehmen (KMU). Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT, Projektgruppe Wirtschaftsinformatik. Verfügbar unter: https://gesund-digital-arbeiten.de/download/5362/
2 Gimpel, H., Lanzl, J., Regal, C., Urbach, N., Wischniewski, S., Tegtmeier, P., Kreilos, M., Kuhlmann, T., Becker, J., Eimecke, J. & Derra, N. (2019). Gesund digital arbeiten?! Eine Studie zum digitalen Stress in Deutschland. Augsburg: Projektgruppe Wirtschaftsinformatik des Fraunhofer FIT. Verfügbar unter: https://doi.org/10.24406/fit-n-562039
3 Gimpel, H., Berger, M., Regal, C., Urbach, N., Kreilos, M., Becker, J. & Derra, N. (2020). Belastungsfaktoren der digitalen Arbeit. Eine beispielhafte Darstellung der Faktoren, die digitalen Stress hervorrufen. Augsburg: Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT, Projektgruppe Wirtschaftsinformatik. Verfügbar unter: https://gesund-digital-arbeiten.de/download/2196/
4 Starker, V., Roos, K., Bracht, E., Hanke, J., Graudenz, D. & Coppik, R. (2022). Kosten von Arbeitsunterbrechungen für deutsche Unternehmen Auswirkungen von Fragmentierung auf Produktivität und Stressentwicklung. Berlin: Next Work Innovation. Verfügbar unter: https://nextworkinnovation.com/wp-content/uploads/2022/06/PMI_NWI_Tagebuchstudie-Arbeitsunterbrechungen-und-Produktivitaet_150622.pdf
5 WTI Pulse Report (2021). Research Proves Your Brain Needs Breaks. New options help you carve out downtime between meetings. Microsoft Human Factors Lab. Verfügbar unter: https://www.microsoft.com/en-us/worklab/work-trend-index/brain-research
6 Lazarus, R .S. & Folkman, S. (1984). Stress, Appraisal, and Coping. New York: Springer.